Das blaue Haus (German Edition)
kam es ihm in den Sinn. Er fühlte seine verschwitzte Haut, obwohl das Zimmer kalt war. Er blickte auf die Übergardinen, die, wenn sie geschlossen wären, vielleicht etwas von den Schatten nehmen würden. In seiner Kindheit waren die Gardinen immer aufgeblieben, und die tanzenden Schatten hatten keine Ruhe gegeben. Es war an der Zeit, die Gardinen zu schließen.
Er tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe, und ein zarter Schein ließ die Schatten verschwinden. Dane erhob sich und ging zum Fenster. Er roch die frisch gewaschenen Gardinen und sah hinaus. Die Silhouetten der Nachbarhäuser malten sich inmitten des weißen Schnees ab. Nirgendwo brannte ein Licht. Selbst die Straßenlampen schimmerten nur. Das eigentliche Licht gab der Schnee. Er tauchte Junction City in ein gespenstiges Grau.
Er nahm die Stille in sich auf, spürte eine tiefe Einsamkeit in sich und schrieb das Wort mit dem Zeigefinger auf das vereiste Glas. Ein fremdes Wort, ein Wort, das er nie zuvor gehört oder gelesen hatte und das ihm doch so bekannt war. Dane sah das blonde Haar, das er als Kind gehabt hatte. Er sah die dunkelbraunen Augen seiner Mutter, wie auch seine dunkelbraun sind. Wie unbemerkt und stetig war die Einsamkeit durch seine Mutter doch in ihn hineingezogen. Herausgekommen war eine tiefe Vereinsamung seiner Seele.
Aber warum sollte es nur seine Mutter gewesen sein, die das in ihm verursacht hatte? Was war mit seinem Vater gewesen? Hatte er nicht auch dazu beigetragen? Er war schließlich sein Vater. Ja, ein Vater, aber niemals einer, zu dem er hätte aufblicken und auf den er hätte stolz sein können. Dane hatte ihn von klein an verabscheut und gehasst.
Brachten etwa nur geliebte Menschen die echte Vereinsamung mit? War es das, was die Enttäuschung ausmachte? Menschen, die man nicht liebt, können nicht enttäuschen, und sie können nicht die Einsamkeit zu einem bringen. Sein Vater war einer von diesen Menschen. Er hatte ihm nie das Gefühl von Liebe vermittelt, überhaupt nichts in dieser Richtung. Er konnte nicht enttäuschen. Er konnte auch keine Einsamkeit zu ihm bringen. Das war bei seiner Mutter ganz anders gewesen. Wie sehr hatte sie sich seit dem Tag, als Dane seinen Vater zum ersten Mal an sich gespürt hatte, verändert. Dabei war es doch nicht sie , die den Schmerz erlitten hatte – nicht den körperlichen. Nur den Seelischen. Und er, Dane, der beides erlitten hatte, wollte ihr den Schmerz nehmen. Sie hatte es zugelassen und ihn zum Packesel für zwei gemacht. Dabei wollte er doch nur ihre Liebe erhalten. Was war davon übrig geblieben?
Nichts, stellte Dane nun fest. Sie hatte niemals irgendetwas erwidert, niemals mit ihm gesprochen oder ihn für die Tapferkeit in der Scheune gelobt. Vier Jahre Kampf und Tapferkeit. Wofür? Für Draht! Für den Draht, den er gebraucht hatte, um ihre Gesten und Taten zu dem zu verdrahten, was er ertragen konnte, das dann den Anschein von Liebe für ihn bekommen hatte ... ganz allein nur für ihn. Das war ihm zum Sauerstoff geworden und hatte ihn am Leben gehalten. Ragee nannte es Gift.
Dane sah auf die schneebedeckten Dächer der Nachbarhäuser. Er sah den grauen Drahtzaun des Nachbarn. Ein großes Loch klaffte darin. So wie der Zaun seinen Sinn durch das Loch verloren hatte, so war er hinabgestürzt in das tiefe Loch der Vereinsamung und nie wieder herausgekommen. Er hatte unzählige Kletterversuche unternommen, war aber immer wieder abgerutscht und jedes Mal derber aufgeprallt. Selbst Sarah hatte es nicht geschafft, ihn dort herauszuziehen. An die Vereinsamung hatte sich dann das Misstrauen geknüpft. Sein Weg war schließlich einsam und misstrauisch geworden – trotz vieler guter Freunde. Sie hatten ihm nur Beschäftigung und Belustigung geboten.
Dane erkannte plötzlich die Oberflächlichkeit der Liebe zu seiner Mutter und seine kindliche Verzweiflung, es Liebe genannt zu haben, wo es doch eigentlich nur Hilfeschreie gewesen waren. Jetzt war das Bild von seiner Mutter ganz klar vor seinen Augen. Er fühlte eine angenehme Klarheit durch seinen Kopf ziehen, wie eine frische Brise gesunden Verstandes. Seine Mutter war zu einem Trugbild seiner Gefühle geworden. Aufrichtige Wärme durchzog plötzlich seinen Körper – ehrliche Wärme.
Er zog mit dem Zeigefinger einen Strich durch das Wort Einsamkeit am Fenster und kleidete sich aus, um unter der weichen Bettdecke Wärme für den Rest der Nacht zu finden. Vielleicht sollte er Julie gegenüber nicht so misstrauisch sein.
Die
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