Das blaue Mädchen
Aufnahmen sind keine Glücksfälle. Das ist Begabung.«
»Meine Eltern halten sich mit Mühe und Not über Wasser«, sagte Marlon. »Ich muss ans Verdienen denken, und das so schnell wie möglich.«
»Ist das dein Lebensentwurf?«, fragte Stauffer. »Geld verdienen?«
»Es ist meine Perspektive«, sagte Marlon brüsk. »Eine andere habe ich nicht.« Er ließ Stauffer stehen, ging zu seinem Roller, würgte vor Wut ein paar Mal den Motor ab und fuhr los.
Stauffer mit seinem Lehrergehalt hatte gut reden. So einer lebte nicht in einem Haus, das ihm unter den Händen zerfiel. Wenn irgendwas nicht funktionierte, bestellte er wahrscheinlich Handwerker, um es richten zu lassen. So einer konnte sich zwei Urlaubsreisen im Jahr leisten und sonntags zum Essen ausgehen. Die Stauffers dieser Welt redeten nicht über Geld, sie besaßen es ganz einfach.
Schule, Studium, Traumberuf? Das mochte für andere gelten, für Marlon galt es nicht.
Und wenn du wirklich gut bist?, hörte er eine kleine, nagende Stimme in seinem Innern. Und wenn du dazu noch ein bisschen Glück hast? Dann kannst du irgendwann mehr Geld verdienen, als du ausgeben kannst.
Wenn.
Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär ich morgen Millionär.
Und was, dachte Marlon, würde ich dann tun?
Den Hof komplett renovieren und modernisieren lassen. Die besten Maschinen anschaffen. Hilfskräfte einstellen. Damit die Eltern es bequemer hätten.
Studieren. Und dann als Fotograf leben. Heute New York, morgen Paris, übermorgen London. Ein Haus in Südfrankreich kaufen und eine Wohnung in San Francisco.
Und das alles zusammen mit Jana.
Es würde ihm auch gefallen, in Australien Schafe zu züchten.
Wenn sie nur zusammen wären.
Er würde dicht an sie geschmiegt einschlafen und dicht an sie geschmiegt wieder aufwachen. Wie sah sie wohl aus, wenn sie noch verschlafen war?
Marlon lächelte. Die Wut auf Stauffer war verraucht.
Seine Mutter stand in der Küche und fing gerade an, Pfannkuchen mit Apfelscheiben zu backen. Der Vater und die Zwillinge saßen schon am Tisch.
»Na endlich!«, sagte Greta ungnädig. »Wir verhungern allmählich.«
Marlene sah demonstrativ auf die Uhr.
»Stauffer wollte noch mit mir sprechen«, erklärte Marlon. »Es hätte ihn bestimmt gefreut zu hören, dass ich keine Zeit habe, weil meine Schwestern Kohldampf schieben.«
Die Mutter hatte den ersten Pfannkuchen in der Mitte geteilt und gab den Mädchen je eine Hälfte auf ihre Teller.
»Damit ihr zufrieden seid«, sagte sie.
»Diese ewige Warterei auf Marlon«, maulte Greta und griff nach dem Zimtstreuer, bevor Marlene ihr zuvorkommen konnte.
»Wir sind eine Familie und essen gemeinsam.« Es zischte, als die Mutter neuen Teig in die heiße Pfanne goss. »Wir begegnen uns ja sowieso nur noch zu den Mahlzeiten.«
Greta und Marlene verdrehten die Augen.
»Außerdem hab ich keine Lust, für jeden extra zu kochen. Und jetzt hört endlich auf zu meckern.«
Die Mutter schaffte es, im Haushalt mit sehr wenig Geld auszukommen, ohne dass man es merkte. Sie servierte die Pfannkuchen wie den Auftakt zu einem Dreisterne-Menü und der Duft, der sich in der Küche ausgebreitet hatte, ließ Marlon das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Schmeckt prima«, sagte er.
Der Vater aß schweigend. Marlene und Greta erzählten von der Schule.
Jeder Lehrer war ein Idiot, die meisten Mitschüler waren ätzend. Ständig wurden die Zwillinge ungerecht behandelt und davon abgesehen langweilten sie sich nur in Sport nicht zu Tode.
»Wozu brauchen wir Mathe«, fragte Greta, »wenn wir doch Stewardessen werden wollen?«
Vor einem Monat hatten sie noch vorgehabt, Tierärztinnen zu werden. Das war, nachdem sie Regisseurin von ihrer Liste gestrichen hatten.
»Ein bisschen Bildung schadet euch nicht«, sagte die Mutter.
»Rein theoretisch könnten wir nach diesem Jahr abgehen.« Marlene teilte sich noch einen Pfannkuchen mit Greta. »Wir überlegen uns das ernsthaft.«
»Wenn eure Noten sich nicht ändern«, sagte der Vater lapidar, »wird euch sowieso nichts anderes übrig bleiben.«
Marlene stöhnte. »Geht das schon wieder los!«
Greta lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Wir haben uns verknallt.« Ihr Gesicht nahm einen schwärmerischen Ausdruck an. »In einen aus der Elf.«
»Es müsste ihn als Zwilling geben«, sagte Marlene. »Genau wie uns. Dann wär das Problem gelöst. Aber so was Süßes gibt es leider nur einmal. Wir werden wohl würfeln müssen.«
Sie verliebten sich ständig aufs
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