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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dieser Frage interessierte ihn nicht, wer der Spion oder die Spionin war, sondern die Wege, auf denen die Informationen den Auftraggeb er erreichten. Denn falls die böse Absicht nicht mit ihnen reiste, also ständig in ihrer Nähe war, musste es ein System der Nachrichtenübermittlung geben, das Gowers noch völlig schleierhaft war.
    »Gehen Sie den Fäden nach«, hatte Coryate gesagt, aber Gowers konnte die Fäden nicht sehen und fuhr fort, Spekulationen über die Spinne anzustellen.
    »Was wissen Sie von Nana Sahib, Babu?«
    »Sie meinen: außer dem, was Sie schon zu wissen glauben?« , fragte der alte Mann wie selbstverständlich zurück. »Sati Chaura Ghat? Das Massaker im Bibighur ? Würde man alle schlechten Taten wiegen, John Gowers, würden auch hundert Nana Sahibs nicht ausreichen, um die Waagschale Englands und der East India Company auch nur einen Millimeter vom Boden zu heben. Belait  …« Der alte Mann versank in ein so langes Schweigen, dass Gowers gerade nachfragen wollte, als er fortfuhr: »Wir waren die Krankheit, zweihundertfünfzig Jahre lang. Der große Aufstand war nur ein kleiner Versuch, das Geschwür wegzuschneiden, das an Indien frisst.«
    »Und Nana Sahib?« Der Investigator wollte so konkret wie möglich bleiben, um die Philosophie nicht die Oberhand über seine Ermittlungen gewinnen zu lassen. »Lebt er noch?«
    Coryate lachte über die Hartnäckigkeit, mit der sein Chela Ziele anstrebte, ohne die Wege kennen zu wollen. »Nana Sahib weiß, dass er in tausend Köpfen lebt, solange er sich nicht zeigt. Und dass er auf diese Weise eine viel größere Bedrohung für die Engländer ist, als wenn er herauskommen und kämpfen würde. Kein Engländer in Indien wird je wieder völlig ruhig schlafen, solange Nana Sahib eine Idee ist und kein Mann, den auch ein Kind töten könnte.«
    »Er lebt also noch?«
    »Davon weiß ich nichts. Aber in Thapathali, an der Grenze Nepals, habe ich einmal einen Palast gesehen, einen ganz kleinen Palast am Ende eines unbedeutenden Dorfs. Dort leben Nana Sahibs Frauen, und sie sehen so glücklich aus, als würde es ihnen an nichts fehlen, John Gowers.«
    »Wer hat Tantia Topi verraten, Babu?«
    »Tantia Topi! Ein stolzer Mann, John Gowers, ein großer Krieger. Und er zog es vor, ein Krieger zu bleiben, statt eine Idee zu werden, deshalb ist er jetzt tot. Zweimal eroberte er Gwalior, zweimal warfen ihn die Engländer wieder hinaus, jagten ihn und seine Männer, wie man ein Rudel Wölfe jagt, einen nach dem anderen. Deshalb zettelte er zuletzt eine Verschwörung an, John Gowers. Als er sah, dass er die Heere der Engländer nicht vernichten konnte, wollte er ihre Führer töten.«
    »Ja. Aber wer waren die Verschwörer? Und wer hat die Verschwörung verraten, oben in Delhi? Wer kennt die Verräter? Wer könnte Rache dafür nehmen wollen, Babu? Das sind meine Fragen an Sie!«, sagte Gowers ärgerlicher, als er wollte. Vor allem der Gleichmut und die Langsamkeit von Coryates Erzählungen fingen an, ihm auf die Nerven zu gehen.
    »Ich nicht. Und ich nicht und ich nicht«, antwortete der alte Mann aufreizend gelassen. »Hoffentlich gereichen Ihnen diese Antworten zum Nutzen, John Gowers!«
    Nur ihre zweieinhalb Jahrhunderte Altersunterschied hielten den Investigator davon ab, dem Digambara in den Hintern zu treten. Der drehte sich plötzlich um und lächelte den wütenden jungen Mann an.
    »Vielleicht ist es besser, wenn ich die Fragen stelle!«, sagte er. »Warum glauben Sie, dass jemand Rache nehmen will?«
    »Ich kann kein anderes Motiv sehen.« Gowers ließ sich auf diesen Wechsel der Rollen nicht nur deshalb ein, weil er sich so über den Stand seiner Ermittlungen Rechenschaft geben konnte, sondern vor allem, weil er hoffte, dadurch der vermaledeiten Philosophie des seltsamen Heiligen zu entgehen. »Niemand profitiert von den Morden, die ich untersuche. Es entsteht kein Vorteil durch sie.«
    »Welche Vorteile vermögen durch Mord zu entstehen?« Während der alte Mann sich langsam wieder in Bewegung setzte, antwortete der Investigator wie aus der Pistole geschossen: »Wirtschaftlicher Gewinn, politischer Einfluss. Wegfall einer Belastung oder Bedrohung.«
    »Und nichts davon trifft auf Ihre Morde zu?«
    »Nicht auf alle. Der Mogul und seine Söhne, gut. Sie waren zwar kaltgestellt, aber noch immer politische Figuren. Aber warum die Kinder? Warum die Mädchen?«
    »Warum Sie, John Gowers?«
    »Jemand fürchtet offenbar, dass ich etwas herausfinde.«
    »Also Nummer

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