Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
leichter, als sie ohnehin schon war. Gowers hatte ihm geraten, Steine in seine Taschen zu stecken, aber es hätte schon ein kleiner Mühlstein sein müssen, um das Gewicht des Amerikaners vorzutäuschen. Als die acht – kurz darauf sehr verblüfften – Träger den Palankin zum ersten Mal anhoben, wäre der Anwalt fast bis zur Decke geflogen, weil sein langer, dünner Körper den Erwartungen dieser simplen Gemüter schlicht zu wenig entgegenzusetzen hatte.
    Vor allem bei den Gesprächen mit den Hofdamen schwitzte Mukhopadhyaya Blut und Wasser. Zwar las er tagsüber immer wieder in den Büchern, die der Investigator ihm gegeben hatte, aber der amerikanische Walfang, britische Waisenhäuser und die Schlacht bei Waterloo waren nicht eben die Themen, die die Kaiserin von Indien vorrangig interessierten. Also erzählte der Anwalt im Wesentlichen von seinen eigenen kurzen Erfahrungen, machte San Francisco zu New York und brachte das Gespräch immer wieder auf das amerikanische Rechtssystem, das er dort vier Monate lang studiert hatte.
    Als die Neugier der Damen gar nicht mehr anders zu befriedigen war, ging er sogar dazu über, interessante Sachverhalte schlichtweg zu erfinden; er kreierte wahre Reformkleider, wollene Unterwäsche, Röcke, die nur noch bis zu den Knien reichten, flotte kleine Hütchen ohne Schleier oder Federn, Blusen, die auf der Seite geknöpft wurden, und ähnliche Absurditäten. Er befreite die Amerikanerin auch kurzerhand vom Korsett, über dessen Technik er zu wenig wusste, versuchte einen Abend lang, Moby Dick auf die Opernbühne zu bringen, und war jedes Mal dem Tode nahe, wenn die große Leibwächterin den Vorhang auch nur berührte. Wahrhaftig mehr tot als lebendig wurde er schließlich in den Palast von Farhat Bakhsh getragen und schwor, sich die Sache eines Klienten nie wieder so sehr zu eigen zu machen.

90.
     
    Seit fast drei Wochen hatte das Eis sich nicht mehr bewegt, und lagen sie an derselben Stelle fest; mitten im Packeis zwar und ohne den Schutz einer Bucht oder auch nur eines einzelnen Felsens, aber dafür in Sichtweite des Landes. Obwohl es das Ende der Welt war, unfruchtbares Geröll, Ton und Kreide ohne jeden Bewuchs, beruhigte das bloße Vorhandensein von etwas, das die blinden Naturkräfte nicht ohne Weiteres umstürzen konnten, ihre Nerven erheblich. McClure, von seinem Anfall religiöser Lethargie geheilt, ließ das Schiff winterfest machen und schickte mehrere Partien an Land, um Ballast aufzunehmen und nach jagdbarem Wild und Süßwasser Ausschau zu halten. Was sie stattdessen fanden, war jedoch das vielleicht Bizarrste, was sie auf ihrer langen Reise gesehen hatten.
    Versteinerte Bäume! Berge aus aufeinandergeschichteten, versteinerten Baumstämmen, einzelne bis zu fünf Meter lang und sechzig Zentimeter im Durchmesser. Kreuz und quer zusammengebacken, wilde, tiefe Schluchten und jäh gezackte Vorsprünge formend, die untersten, halb in Flugsand und Ton versunken, schon zu einer Art Braunkohle geworden. Manche dieser bizarren Baumgebirge erreichten eine Höhe von achtzig Metern und waren so stabil, dass man gefahrlos darauf herumklettern konnte. Über ihre Entstehung bildeten sich rasch zwei Theorien.
    Die eine ging davon aus, dass eigentümliche Strömungsverhältnisse und unbekannte Absonderlichkeiten der Eisdrift einige hunderttausend Jahre lang die von unsagbaren Stürmen gefällten Bäume der Taiga immer wieder an dieselbe Stelle getrieben und allmählich zu dieser Albtraumlandschaft zusammengeschoben hatten. Die Zeiten und Kräfte, die dazu nötig gewesen waren, konnte sich niemand vorstellen. Die andere Möglichkeit klang vielleicht weniger düster, aber für das 19. Jahrhundert vielleicht sogar irrsinniger: dass die Welt ihr Antlitz verändert hatte und hier, wo jetzt nur noch Moose, Flechten und einzelne zähe Gräser wachsen konnten, vor Äonen einmal ein Wald gestanden hatte.
    Versteinerte Tannenzapfen und Eicheln sprachen eher für die zweite Theorie, so undenkbar sie in einem festgefügten Universum mit Regeln, Sinn und Schöpfungsplan auch sein mochte. Dass das Wetter sich ändert, die klimatischen Bedingungen schwanken, gut. Aber dass die Welt selbst sich verändert, dass sich ganze Länder, Kontinente womöglich verschieben, würde ja bedeuten, dass Gott nicht weiß, was er will! Und all ihre Orientierung in der Welt, all die Entdeckungen, die sie machten und eifrig in ihren Karten und Büchern verzeichneten, wären dann Provisorien, bloße Augenblicke in

Weitere Kostenlose Bücher