Das blaue Siegel
drei«, freute sich Coryate, »Wegfall einer Belastung oder Bedrohung! Und wen könnten Ihre Ermittlungen bedrohen, John Gowers? Nana Sahib? Oder einen Rächer Tantia Topis?«
Gowers’ Gedanken flogen. Ein politischer Hintergrund ergab keinen Sinn, denn ein politischer oder gar nationaler Rächer hat gemeinhin keine Probleme damit, dass seine edlen Absichten ans Licht kommen. Der Investigator begann zu ahnen, dass er sich mit der Konzentration seiner Ermittlungen auf den Mogul, die Engländer, den Sepoy-Aufstand und das übrige Groß und Klein der Kolonialpolitik möglicherweise in eine Sackgasse manövriert hatte.
Durch die klugen Fragen des alten Mannes brach zwar ein großer Teil seiner bisherigen Vermutungen weg, aber in wunderbarer Klarheit stellten sich auch zwei Folgerungen ein: Erstens: Es musste einen persönlichen Hintergrund für die Mordserie geben. Und zweitens: Die böse Absicht hatte immer noch etwas zu verlieren. Ansonsten war aus dem Mordanschlag auf den Ermittler kein Vorteil zu erzielen.
»Persönliche Rache, aber an wem?«, murmelte er. »Gemeinsamkeiten der Opfer? Die Zugehörigkeit zur Dynastie. Gab es andere Prätendenten? Prätendenten für was? Die Mogulherrschaft existiert nicht mehr. Rache … für etwas Persönliches, in der Vergangenheit!«
»Was ist Rache?«, unterbrach Coryate den Gedankenfluss des Investigators.
»Vergeltung für ein vermeintliches oder tatsächliches Unrecht«, erwiderte Gowers prompt. Aber diesmal schüttelte der alte Mann den Kopf.
»Rache ist ein Gift, John Gowers. Und es verzehrt vor allem und am längsten den Rächer selbst. Warum lässt er sich verzehren? Weil Rache süß ist. Sie ist eine Lust!«
»Nicht auch das Streben nach Gerechtigkeit?!« Plötzlich und ohne es wirklich zu wollen, dachte Gowers an Deborah, an ihren sinnlosen Tod und an alles, was er danach getan hatte. Diese Frage betraf ihn persönlich, und fast sofort wurde er aggressiv.
»Auch das Streben nach Gerechtigkeit ist eine Lust«, sagte Coryate. »Vielleicht die vermessenste aller Lüste, da niemand weiß, was Gerechtigkeit ist.«
»Na, sagen Sie es schon«, erwiderte Gowers wütend und gab selbst die Antwort, die er hören wollte: »Nur Gott weiß, was Gerechtigkeit ist!«
»Es gibt keinen Gott«, entgegnete der alte Mann ruhig. »Den haben die Menschen erfunden als Zuflucht, als Trost und als letzte verzweifelte Rechtfertigung ihres Handelns.«
»Oh, ich verstehe!« Die Wut des Investigators verwandelte sich jetzt in Zynismus. »Sie meinen, es wäre besser, wir ziehen uns alle aus und halten unsere Herzen an!«
»Ja«, sagte Coryate schlicht. Und nach einer Weile fügte er trocken hinzu: »Aber das bringt unsere Ermittlungen nicht voran.«
Gowers musste laut lachen, halb über diese Feststellung und halb über sich selbst. Mitten in Indien, auf einer kleinen staubigen Straße, an der Seite eines nackten Yogis, den er vor vier Tagen noch nicht gekannt hatte, fühlte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder wie ein Kind, dem die Welt erklärt wird.
»Was ist das Wesen der Lust, John Gowers?«, fragte der bedürfnislose alte Mann weiter. »Was gefällt uns an ihr? Was suchen wir in ihr? Die Befriedigung?«
»Nein«, sagte Gowers, dessen Gedanken wieder so zu rasen begannen, dass er ihnen kaum folgen konnte. »Die Befriedigung beendet die Lust. Sie ist ihr Ziel. Ihr Wesen … ist die Dauer.«
»Wie machen wir, dass die Lust dauert?«
»Wir steigern sie. Wir dehnen sie aus!«
»Also eine lange, langsame Rache. Was bedeutet das für den Menschen, dem sie gilt?«
»Er muss sie erleben bis zum Schluss.«
Die beiden Wanderer schwiegen jetzt lange, und erst, als ihre Schatten schon weit über die tiefliegenden Reisfelder im Osten fielen, fragte John Gowers: »Was wissen Sie über Zinat Mahal Begum, Babu?«
89.
Lakhnau, die Residenzstadt der Fürsten von Oudh, hatte noch lange einen Schimmer vom Glanz der Mogulzeiten bewahrt. Der traurige Anblick, den der Palast von Farhat Bakhsh bot, schnitt Zinat Mahal Begum deshalb tief ins Herz. Sicher war auch das Rote Fort von Delhi verfallen, aber dieser Verfall zog sich schon über ein Jahrhundert hin, und sie kannte es gar nicht anders. Im Palast von Farhat Bakhsh in Lakhnau war sie geboren und aufgewachsen, als ihr Vater noch unumschränkter Herrscher von Oudh gewesen war, und beide hatte sie in all ihrer Macht und Pracht gesehen.
Die Realität vor ihren Augen entsprach so gar nicht dem Bild in ihrem Herzen: Seit ihr
Weitere Kostenlose Bücher