Das blaue Siegel
Bruder, letzter Nawab des Oudh, vor zehn Jahren entmachtet worden war, war es mit Lakhnau und dem Königspalast stetig bergab gegangen. Während der fünfmonatigen Belagerung im Sommer der Rebellion hatten aufständische Sepoys darin gehaust und von seinen Türmen aus die Verschanzungen der britischen Garnison ins Kreuzfeuer genommen. Als die englischen Entsatzheere endlich eintrafen, hatten sie deshalb auch den Palast beschossen und gestürmt, und was die Meuterer noch nicht zerstört, geraubt oder beschmutzt hatten, zerstörten, raubten, beschmutzten die Schotten der 78th Highlanders.
Für die auch nur ansatzweise Wiederherstellung des Palastes fehlten zuerst ihrem Bruder, dann ihrer Schwägerin alle Mittel; mit ihren Kindern wohnte sie nun in einem halbwegs intakt gebliebenen Teil der großen Anlage und finanzierte ihre Haushaltung und Dienerschaft durch den allmählichen Verkauf der Schätze, die ihr geblieben waren.
Zinat Mahal Begum hingegen bezog die Räume, in denen sie jung gewesen war, im Nordflügel, über dem Fluss Gomati. Hier hatte sie schon als kleines Mädchen das vielstimmige Schreien der gefangenen Tiere in der Menagerie ihres Vaters gehört, die am anderen Ufer lag. Mit einem alten britischen Fernrohr, um das sie sich regelmäßig mit ihren drei Schwestern stritt, hatte sie gern die wilden Kämpfe beobachtet, die auf der anderen Seite stattfanden. Blutige Tierkämpfe, auf deren Ausgang die Edlen hohe Wetten abschlossen, die das Volk zerstreuten.
Hahnenkämpfe, Hundekämpfe, bissige Stuten, aber auch Hengste gegen Kamele, denen man die Hoden abschnüren musste, damit sie wild genug wurden. Manchmal zwei ausgehungerte Tiger gegeneinander, manchmal ein einzelner Tiger gegen ein Rudel wilder Hunde. Hunde gegen Bären, denen man die Krallen bis auf den Knochen gestutzt hatte, damit der Kampf länger dauerte. Einmal zwei Nashörner, von weit her nach Lakhnau geschafft. Dabei hatte das kleine Mädchen erstmals Gelegenheit, physikalische Grundgesetze zu studieren, denn sie hörte das Aufeinanderklatschen der tonnenschweren Tiere erst, als sich ihre massigen Gestalten im Fernrohr schon fast wieder getrennt hatten.
Und immer wieder die rund hundertfünfzig Kampfelefanten ihres Vaters, wilde graue Riesen, wahnsinnig gemacht durch den Ankus , den spitzen eisernen Stachel, den die Treiber auf ihren Rücken ihnen in die blutig vernarbten Nacken stießen. Die Erde bebte, wenn die gewaltigen Leiber in Zweikämpfen oder manchmal auch kleinen Schlachten gegeneinander anliefen, aber nicht für die Königstöchter von Oudh, die das Spektakel ruhig von ihrem Logenplatz aus verfolgten. Nur das verzweifelte Gebrüll der Unterlegenen, denen die zugespitzten Stoßzähne ihrer Gegner die großen grauen Bäuche aufgerissen, die meterlangen Rippen zerbrochen hatten, hörte man über den Fluss hinweg und noch weit in die Stadt hinein. Manchmal auch den Aufschrei der Zuschauer, wenn eines der Tiere in seiner Raserei die Absperrungen zu durchbrechen versuchte, ehe sein Lenker den Ankus mit einem Hammer tief und tödlich in dieses unterjochte Gehirn treiben konnte. Oder aber, wenn einer der kleinen Quälgeister abgeschüttelt wurde, hoch durch die Luft flog und unter den riesigen Körpern, den stampfenden Beinen im meterhoch aufspritzenden roten Staub verschwand.
Zinat Mahal Begum stand an dem gleichen Fenster über dem Fluss, an diesem Abend, vier Jahrzehnte später, und keine Fahnen, bunten Menschenmengen, hölzernen Arenen waren mehr jenseits des Wassers zu sehen. Nur der Gomati selbst glänzte noch immer so golden wie in der untergegangenen Sonne ihrer Kindheit. Immerhin war man von Kanpur nach Lakhnau standesgemäß gereist, hatte sie ihr Inkognito aufgeben und die Schar ihrer Diener verstärken dürfen.
Sogar der Amerikaner hatte sich in einem mit Goldbrokat verhangenen Palankin tragen lassen; angeblich wegen einer Erkrankung, denn selbst Ishrat hatte ihn seit drei Tagen nicht mehr gesehen; nur der elend lange Dolmetscher durfte in der Sänfte des Amerikaners reisen, und allein über diesen hatte man sich an den letzten Abenden mit ihm unterhalten können. Entsprechend langweilig war dieser letzte Reiseabschnitt verlaufen, und erleichtert war die Königin, unter den Fanfaren von immerhin drei bezahlten Trompetern, in die alte Residenz ihrer Väter eingezogen.
Mukhopadhyaya hatte in dieser kurzen Zeit vor Anspannung mindestens fünfzehn Pfund abgenommen, und natürlich machte das die vermaledeite Sänfte noch
Weitere Kostenlose Bücher