Das blaue Siegel
bestimmte Seite auf und hielt sie dem alten Mann hin.
»Wissen Sie, was das für ein Zeichen ist, Babu?«
Coryate musterte die kleine Zeichnung lange und schien sie sozusagen mit all den aufgestauten Erinnerungen seines langen Lebens abzugleichen, ehe er sagte: »Das Siegel von Gwalior.« Er runzelte die Stirn. »Nur Könige durften dieses Siegel verwenden. Aber es wurde zerbrochen, vor einem Menschenalter, denn so lange schon gibt es keinen König von Gwalior mehr.«
»Tantia Topi hat es zweimal eingenommen«, warf Gowers ein.
»Aber er war nie König dort«, erwiderte der Alte. »Es braucht mehr als zwei siegreiche Schlachten gegen die Engländer, um König von Gwalior zu werden. Dieses Land ist zwar nicht so alt und war nie so groß wie das Königreich Oudh, aber immer unabhängiger, wilder. Die Engländer fanden es freilich nur rebellischer. Deshalb ließen sie dort auch kaum einen Stein auf dem anderen, als sie das Königreich von Gwalior vor fast einem halben Jahrhundert zerschlugen.«
»Wer war sein letzter Herrscher?«
»Baiza Bai.«
»Was wurde aus ihm?«
»Aus ihr, John Gowers«, korrigierte Coryate. »In Gwalior war die weibliche Linie erbberechtigt. Und Baiza Bai war eine würdige Erbin. Selbst die Engländer bewunderten sie, so sehr kam sie ihrem Sinn für Romantik und Mythologie entgegen: An der Spitze ihrer Truppen ritt sie in die Schlacht, in der einen Hand eine Lanze, in der anderen ein Kind!«
»Aber was geschah mit ihr, Babu?«, fragte Gowers, auch nach drei Tagen noch ungeduldig.
»Eine Verschwörung warf sie vom Thron, und …«
»Verschwörungen scheinen hierzulande die gängigste Form der Politik zu sein«, sagte Gowers und seufzte.
»Politik ist immer eine Form der Verschwörung, zumindest eine Verschwörung der Politiker, John Gowers.«
Der Investigator hob abwehrend beide Hände, um eine neuerliche Flut allgemeiner philosophischer Überlegungen einzudämmen. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe, Babu! Was wurde aus Baiza Bai?«
»Starb vor Gram. Zehn Jahre später«, antwortete Coryate im Telegrammstil. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie aufhalte, John Gowers. Ich bin ein alter Mann, und alte Männer pflegen gern mehr zu erklären, als die Jungen wissen wollen.«
»Das ist es nicht, Babu«, versuchte Gowers, seinen Begleiter zu beschwichtigen. »Es ist nur die Ermittlung, die mich zwingt, aus all Ihren Erklärungen auszuwählen.«
»Nein«, sagte der alte Mann. »Es ist das heilige Recht der Jugend, die Welt immer neu zu entdecken. Es ist herrlich, jung zu sein, nichts zu wissen und nichts wissen zu wollen, sich alles selbst zu erklären und nicht auf die Alten zu hören. Man muss nur aufpassen, dass aus dieser leichten, unbeschwerten Ignoranz nicht allmählich eine fette, behäbige Dummheit wird!«
Gowers musste lachen, als er sich diesen leider nur allzu häufigen Wandel bildlich vorstellte. Dann sah er zu seinem Entsetzen, dass Coryate sich auf seinem Schattenplatz unter einer verkrüppelten Tamarinde auf die Seite legte und zum Schlafen einrollte. »Und alte Männer müssen aufpassen, dass sie noch eine Stunde ruhen, wenn sie Lakhnau vor dem Abend erreichen wollen«, murmelte er noch und war praktisch sofort eingeschlafen.
Der Investigator hatte diese Fähigkeit nie besessen, selbst als Kind nicht und während der Arbeit an einem Fall überhaupt nicht. Ein wenig verwundert und ein wenig neidisch schaute er auf den ruhig atmenden, in seiner Nacktheit und dem Staub der Wege völlig sorglosen alten Mann. Irgendwann stand er auf und ging ein paar Dutzend Meter zu einem Gehölz. Hier zog er sein Messer aus dem durchgeschwitzten Stiefel und schnitt einen der größeren Äste zu einem Wanderstab für seinen Gefährten zurecht.
Während er noch daran schnitzte, sah er, diesmal auch ohne Bangh und Tabakrauch, den Kriegszug des letzten Königs von Gwalior vor sich und verstand sofort, was die Engländer daran fasziniert hatte: die wilden Scharen dunkelhäutiger Krieger, ihre langen Bärte, bunten Turbane, die zusammengewürfelten Uniformen. Schwere, gebogene Säbel, die Steinschlossgewehre, Lanzenreiter, mit ledernen Matten behängte Kriegselefanten und an ihrer Spitze Baiza Bai, eine verschleierte Amazone in Weiß und Rot, auf einem großen Pferd.
An dieser Stelle stutzte er plötzlich; nicht weil die Vorstellung immer romantischer wurde, sondern weil ihm eine Frage einfiel, auf die er vorhin nicht gekommen war. Wenn diese Frau der letzte Herrscher von Gwalior
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