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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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einem unüberschaubaren Wandel. Wenn auch die Erde nicht fest, nicht beständig war, was schützte sie dann vor der Wildheit der Dinge?
    Schließlich zerriss die gleiche träge, unerbittliche Bewegung am Grunde des Ozeans, die das Eis drei Wochen lang gegen das Land gepresst und den Holzsplitter an seiner Oberfläche beinahe zerschmettert hätte, die bereits fünf Meter dick an den Felsen festgefrorene Scholle auch wieder und zog sie mitsamt ihrem unfreiwilligen kleinen Passagier auf das Polarmeer hinaus. Westwärts, weg von dem Schutz, den auch nur der Gedanke bot, dass hier Land war; Inseln, deren entgegengesetztes Ende man in England kannte, wohin irgendwann Schiffe kommen und zumindest ihre Gräber finden würden. Mit verzweifelter Anstrengung und Tonnen von Schießpulver sprengten, bohrten, hackten sie an ihrem eisigen Schicksal und diesem sinnlosen Fortgerissenwerden, bis sie, zu Tode erschöpft, doch noch einmal das flache Wasser erreichten; in die schmale Rinne zwischen Eis und Land rutschten, in der sie ihr Schiff mit den Booten nach Osten schleppen konnten, bis wieder Wind aufkam.
    Gewaltige Nebelbänke krochen nun hinter ihnen her, schoben sich links und rechts an ihnen vorbei, schlossen sie ein, aber die Fahrt ging voran. Es knirschte und knackte grauenerregend rings um das Schiff, und als würden sie Spießruten laufen, erhielten sie harte Schläge und Stöße von hinten und von beiden Seiten, aber die Fahrt ging voran. Der Nebel wurde so dicht und die Fahrrinne schließlich so schmal, dass man kein Wasser mehr vor dem Schiff sehen konnte, aber die Fahrt ging voran! Am 23. September 1851 verließ ihr erfahrenster Eispilot, Stephen Court, entnervt seinen hohen Posten auf dem Fockmast: Niemand brächte ihn mehr da hinauf, es sei denn, man würde ihn an der Rah aufknüpfen. Es sei nicht natürlich!
    McClure stieg selbst auf den Mast und sah, was sein bester Mann meinte. Voraus gab es nur festes Eis, kein Pint offenen Wassers vor dem Bug, aber trotzdem fuhr das Schiff weiter, es war unerklärlich. Fast war er froh, als die Investigator gegen Abend mit einem Ruck zum Stehen kam. Das wenigstens konnte er begreifen. Aber als er sah, dass es kein Eis war, sondern eine Sandbank, auf die sie gelaufen waren, packte ihn wieder die Angst. Das Eis hatte sie geschoben, kein Zweifel; nun würde es sie überrollen!
    Sie leichterten das Schiff, luden alles in die Boote, was nicht niet- und nagelfest war, um Gewicht und Tiefgang zu verringern und so über das Hindernis hinwegzukommen. Hinter ihnen quoll der Nebel auf und schob sich langsam ihr allmächtiger eisiger Feind heran. Sie konnten nichts mehr als warten, wer zuerst kommen würde: die Flut oder der Tod. In der Nacht, als das haushohe Pack sich schon aus dem Nebel schälte und sie seinen Atem im Nacken fühlten, war es dann doch noch einmal die Flut, die das Schiff anhob und es – ohne dass sie etwas dafür oder dagegen tun konnten – in eine weite, flache Bucht trieb, die es nie wieder verlassen würde. Sie nannten sie die Bay of God’s Mercy – Gottes Gnadenbucht.
    Es ist wahr, dass Robert Le Mesurier McClure nie mehr als diesen jämmerlich schmalen Streifen Wasser befuhr, von der hundert Meilen breiten Meeresstraße, die heute seinen Namen trägt. Aber es ist auch wahr, dass nach der Investigator niemals wieder ein Schiff so weit an dieser Küste entlangsegelte und dass noch hundertfünfzig Jahre später Männer auf atomgetriebenen Eisbrechern verstohlen ihre Mützen abnehmen an der Stelle, aus Respekt vor dem kleinen hölzernen Bruder, der hier die letzten Meter seiner langen Reise zurücklegte.
     

91.
     
    Nach drei Tagen auf der Straße war dem Digambara sein Alter allmählich anzusehen. Gowers, der den Fußmarsch in den eigenen Knochen zu spüren begann, verlangsamte daraufhin sein Tempo, um es dem alten Mann leichter zu machen. Sie rasteten jetzt auch häufiger und länger, wobei der Investigator seinen Begleiter in der einzigen ihm möglichen Weise geradezu umsorgte.
    »Noch eine Zigarre, Babu?«
    Aber Coryate schüttelte den Kopf. »Danke, John Gowers. Meine Zunge ist schon ganz wund. Ich habe seit hundert Jahren nicht mehr so viel geraucht!«
    Gowers, dem seine eigene Zunge seit Beginn der Ermittlungen mehr und mehr wie ein Stück Holz vorkam, der aber aus Erfahrung wusste, dass der Zustand dieses unmäßigen Tabakkonsums erst mit Abschluss seines Falls beendet sein würde, holte das kleine Notizbuch aus seinem Reisebündel. Er schlug eine

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