Das blaue Siegel
unangemeldet direkt vor seiner Tür zu finden, und ihm war so offensichtlich unklar, dass er genauso gut und ungeschützt auch vor dem Dolch eines Mörders gestanden haben könnte, dass Gowers beschloss, ihn mit derlei Überlegungen auch nicht zu belasten. Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass Thomas Coryate eine Mahlzeit und ein Bett erhielt, ließ sich der Investigator von seinem Anwalt über die offiziellen Verhältnisse im Palast von Farhat Bakhsh aufklären.
Eigentümer war die britische Krone; Königin Viktoria hatte ihn jedoch ihrem hiesigen Stellvertreter, dem Provinzgouverneur von Lakhnau, überlassen. Da dieser es vorzog, in seiner Residenz in der Stadt zu wohnen, hatte er einen Verwalter für alle ehemals fürstlichen Besitzungen eingesetzt; dieser hatte einem seiner Beamten die Zuständigkeit für den Palast übertragen, der ließ mit Billigung, aber unter Überwachung des Militärkommandeurs die Fürstin von Oudh und ihre weitläufige Familie mietfrei darin wohnen, und diese hatte soeben Besuch von ihrer Schwägerin, der Königin von Delhi, erhalten. Da jede dieser Parteien ihre eigenen Diener, Wächter und Spione mitbrachte, konnten einerseits Monate vergehen, ehe hier offiziell auch nur ein Nagel in die Wand getrieben wurde. Andererseits war es jedem jederzeit möglich, Marmorverblendungen, Blattgold, ganze Bodenmosaike abzuschlagen und zu verkaufen, ehe es jemand verhindern konnte. Das ging jetzt seit ungefähr acht Jahren so, aber noch immer war genug »Substanz« vorhanden, um der Familie des ehemaligen Nawab der Oudh ein arbeits-, wenn auch nicht sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
Gowers interessierte sich nicht für diese Familie, aber sie, von der unsäglichen Langeweile gepeinigt, die ein privilegiertes Leben für schlichte Gemüter mit sich bringt, interessierte sich sehr für den Amerikaner; und so erreichten ihn in den nächsten Tagen immer wieder dringende Einladungen von Schwestern, Schwägern, Cousinen und entfernten Vettern, die in jeweils eigenen Räumlichkeiten des Palastes residierten – und ihn eigentlich nur in Augenschein nehmen wollten, ohne seine Fragen auch nur zu verstehen, geschweige denn zu beantworten. Auf diese Weise würde er noch monatelang ermitteln, ohne auch nur einen Zentimeter voranzukommen. Die Einzige, die er noch nicht gesehen hatte, war die unglückliche junge Frau, der man zuerst den Gatten und dann nacheinander ihre drei Kinder ermordet hatte.
94.
Nawab Sha Zamani Begum war ein Gespenst; angeblich durchwanderte sie nachts die gesamte Palastanlage, immer schwarz gekleidet, wortlos, immer allein, nur von ihren Hunden begleitet, die jeden zerreißen würden, der sich der Prinzessin näherte. Tagsüber sei sie unauffindbar – jedenfalls waren das die Informationen, die Coryate im zwanglosen Gespräch mit einigen Dienern erreichten und die er an Gowers weitergab. Offiziell und dem Investigator gegenüber wurde die Prinzessin von allen Mitgliedern ihrer Familie so hartnäckig und mit so vielen unterschiedlichen Begründungen verleugnet, dass er bald überzeugt davon war, dass wirklich niemand wusste, wo Zamani Begum sich inmitten all der ruinierten Pracht und Größe aufhielt. Er musste deshalb das Gleiche tun, was die böse Absicht getan hatte, und heimlich dem einzigen Menschen folgen, der ihn zu ihr führen konnte.
Obwohl ihre Hände noch nicht wieder geheilt waren, trug Niazoo zwei große Körbe mit Lebensmitteln, die sie mühsam in die Ellenbeugen klemmte. Einen Schlauch Wein oder Wasser – Gowers wusste es nicht – hatte sie sich zuvor umständlich auf den Rücken geladen. Der Investigator hatte lange überlegt, wen er als Übersetzer auf seine nächtliche Jagd mitnehmen sollte, und sich dann für Ishrat und gegen Mukhopadhyaya entschieden. Einerseits, weil er erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Anwalts hatte, sich schnell und lautlos in der Dunkelheit zu bewegen, andererseits, weil er seine Beute, die Prinzessin von Oudh, nicht durch das Auftauchen gleich zweier unbekannter Männer unnötig erschrecken wollte. Die Leibwächterin war sofort einverstanden gewesen; zweifellos, weil sie ihrer Herrin Zinat Mahal dann endlich einmal einen unverfälschten Bericht über die Aktivitäten »ihres« Detektivs geben konnte. Bei der Verfolgung der Dienerin und ihres kleinen Lichts, manchmal fünf, manchmal fünfzig Schritte von ihnen entfernt, konnte Gowers dann aber zum ersten Mal den ehrlichen Respekt seiner so unfreiwilligen Gefährtin
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