Das blaue Siegel
Schweiz. Ungefähr so groß wie Schottland, wenn man die Orkneys, die Shetlands und vielleicht auch noch die Hebriden abzog. Sie hatten bei seiner Umrundung zwölf Flussmündungen gezählt, und zumindest drei dieser Flüsse waren deutlich größer als die Themse oder der Shannon River – aber sie hatten keine Namen. Niemand kannte ihre Quellen, kein Mensch sah sie fließen. Banks-Land war leer. Um sich einen Begriff von ihrer Isolation zu machen, stellte McClure bisweilen quälende Gedankenspiele an. Es war, als würden sie in Edinburgh sitzen und die nächste ganzjährig von Weißen bewohnte Ansiedlung wäre ein einzelnes kleines Holzfort bei Paris, das nächste halbwegs zivilisierte Dorf mit regelmäßigem Postverkehr Neapel.
In einem Teil seiner Seele, dessen Zugang er sogar vor sich selbst meist sicher verschlossen hielt, fragte sich der Kapitän bereits, wie viele Expeditionen und Schiffe von Austins oder Pennys Geschwader oder sogar den Amerikanern in diesem Moment in der Arktis waren, wo sie waren und wie er sie erreichen könnte. Er beabsichtigte, sie im Osten zu suchen, und hoffte, sobald die Sonne wiederkehrte, bei einer Expeditio n nach Winter Harbour auf der Melville-Insel zumindest Nachrichten von den anderen zu finden – vielleicht sogar ein Lebensmitteldepot. Tatsächlich aber war die Arktis in diesem Winter 1851/52 bis auf die Investigator in der Mercy Bay und die Enterprise fünfhundert Meilen weiter südöstlich völlig leer.
93.
Da sie von Westen kamen, mussten sie fast die gesamte Stadt durchqueren, um zum Palast zu kommen, und diese letzten Schritte, unter dem Türkischen Tor, über den Basar von Hussainabad, fielen dem Investigator merkwürdig schwer. Er versuchte, sich einzureden, dass das an der Gefahr lag, der er entgegenging. Immerhin musste sich Gowers in Lakhnau erneut exponieren, wieder würde die böse Absicht wissen, wo er war und was er tat, wieder würde irgendwann irgendwo ein Messer auf ihn warten. Aber insgeheim wusste er, dass dies nicht der alleinige Grund war. Es war der alte Mann.
Gowers mochte sich noch nicht von Thomas Coryate trennen. Obwohl er immer fast ängstlich bemüht gewesen war, nur über den Fall oder über Indien im Allgemeinen zu sprechen, hatte er doch das Gefühl, schon lange nicht mehr so viel von sich selbst preisgegeben und so viel über sich selbst erfahren zu haben wie in diesen fünf Tagen auf der Straße, an der Seite des Digambara .
Es war wesentlich leichter, in den Palast von Farhat Bakhsh zu gelangen als ins Rote Fort von Delhi, denn britische Artillerie hatte im März 1858 die Hauptarbeit geleistet und die nordöstliche Mauer der riesigen Anlage in Klump geschossen. Seither waren über diese nicht nur nicht weggeräumten, sondern nur immer fester getrampelten Schutt- und Trümmerberge immer wieder Leute in den Palast eingedrungen, die dort nichts zu suchen hatten, und es entstanden wahre Räuber- oder Bettlerlager in den Kasematten, wenn sich der englische Provinzgouverneur nicht gelegentlich zu einer Säuberungsaktion durchrang.
Nur der westliche, von der fürstlichen Familie bewohnte Teil des Palastes war besser gesichert; aber auch hier ließen die Wachen Gowers und den alten Mann durch, ohne dass er seine Papiere vorzeigen musste oder jemand ihn fragte, woher er kam. Seine Behauptung, im Auftrag der Königin von Delhi unterwegs zu sein, öffnete ihm ungeprüft alle Tore und Türen – mit Ausnahme der Zenana –, und Gowers begann zu verstehen, wieso es in Lakhnau so viele Tote unter den Mogulerben gegeben hatte. Einem auch nur halbwegs entschlossenen Mörder würde er hier nur entgehen, indem er sich möglichst selten dort aufhielt, wo man ihn erwartete. Das allerdings konnte in dem herrschenden Chaos von Zuständigkeiten und Hierarchien nicht allzu schwierig sein.
Zwei Dinge blieben zu tun: Er musste Nawab Sha Zamani Begum, Prinzessin von Oudh und Delhi, die letzte Überlebende der mittleren Generation, sprechen, herausfinden, warum sie noch lebte, wie ihre Schwester, Nichten, Töchter gestorben waren und wen sie wodurch darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ausgerechnet ihr Sohn, der Prinz, noch am Leben war. Danach würde er Zinat Mahal Begum mit dem Stand seiner Ermittlungen und der Vermutung konfrontieren, dass die Rache der bösen Absicht nicht der Moguldynastie, sondern ihr persönlich galt.
Der von seiner langen Scharade noch immer merklich entnervte Mukhopadhyaya war froh, den Investigator so plötzlich und
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