Das blaue Siegel
erwerben. Die Sicherheit, mit der er sich in der Dunkelheit bewegte, sie auch noch auf kleine Hindernisse, Spalten, Trümmer und dergleichen auf ihrem Weg hinwies, ohne Niazoo dabei auch nur für einen Moment aus den Augen zu verlieren, war beinahe unheimlich.
Wieder zerbrochene Tore, verödete Höfe, halb verschüttete Kellergänge, Treppen, Zimmerfluchten – mit dem Unterschied, dass hier, fünfhundert Kilometer südöstlich von Delhi, eine üppigere Vegetation sich schon wesentlich mehr von der Ruine zurückgeholt hatte als im Roten Fort. Fast anderthalb Meilen gingen sie durch zum Teil mehr als knöchelhohes Gras, bis sie fast genau in der Nordostecke des Palastareals auf eine Art Terrasse über dem Fluss gelangten. Zum Gomati hin stand die hohe Mauer der Fürsten von Oudh noch, und hier erhob sich auch ein düsterer alter Wachturm; in seinem Inneren mehrere Räume und eine schmale Treppe, die nach oben zur Plattform und nach unten zu einem breiten Ghat, also zum Fluss führte.
Gowers lauschte hier eine Weile: auf die leisen Stimmen im Turm, das aufgeregte Winseln von Hunden, die offensichtlich gefüttert wurden, und ein eigenartiges schleifendes Geräusch, das vom Ghat heraufdrang – wie schwere Körper, die auf dem Boden umherkriechen. Dann ein charakteristisches Plätschern, als etwas in die trüben nächtlichen Wasser des Gomati glitt, und er erinnerte sich an die bis zu sieben Meter langen Alligatoren, die er in den Sümpfen und Bayous des unteren Mississippi so oft gesehen hatte. Sofort gab er den Plan auf, sich die Treppe hinunterzuschleichen, um von dort das Gespräch im untersten Turmzimmer besser belauschen zu können, sondern rief: »Niazoo!«
Für eine Sekunde verstummten alle Geräusche, dann sprangen zwei große Hunde aus dem Turm, die aber weder hungrig noch besonders angriffslustig waren, sondern anscheinend nur nachsehen wollten, was los war, und vor Ishrats Schwert mit eingeklemmtem Schwanz, aber immerhin knurrend zurückwichen. Auch die Dienerin spähte jetzt durch eine der kleinen Fensteröffnungen und erkannte den Amerikaner.
»Ich möchte mit deiner Herrin sprechen!«, sagte Gowers.
Wenige Minuten später kam Niazoo heraus und führte sie zu ihrer Prinzessin. Der Investigator war ein wenig enttäuscht, aber vor allem erschüttert, als er Zamani Begum sah. Das Mysterium um sie, ihre nächtlichen Wanderungen, das Schweigen, das sie umgab, waren hoheitsvoller als die junge Frau selbst. Sie war in seinem Alter, sie war hübsch, aber nicht schön. Als Purdha hatte sie lediglich ein dunkles Tuch fest um den Kopf geschlungen, das allerdings ihr Gesicht freiließ. Anscheinend war sie sicher, dass bei dem Licht von Niazoos jämmerlicher kleiner Laterne ohnehin nichts von ihr zu sehen war. Gowers erkannte jedoch aufgrund seiner besonderen Gabe neben der Angst und der Trauer auch die Neugier, die in diesem Gesicht arbeitete. Während sie steif und hoch aufgerichtet versuchte, eine so königliche Haltung wie nur möglich einzunehmen, standen doch ihre Augen nicht still, und ihr Mund zuckte, als könne sie das Grimassieren nur mühsam unterdrücken. Er sah auch, dass sie ungepflegt war, denn die schmale Hand, die das Kopftuch zusammenhielt, war schmutzig, ihr Gesicht ungewaschen.
»Ja?«, fragte Zamani Begum hochfahrend, aber auf eine merkwürdige Art auch somnambul. Es sollte wohl arrogant wirken, aber es sah nur wie Wahnsinn aus.
»Mein Name ist John Gowers. Ich bin …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach ihn die Prinzessin. »Ich weiß stets, wer in meinem Palast ist und was darin geschieht. Was wollen Sie? Meine Zeit ist kostbar!«
»Ich untersuche den Tod Ihres Sohnes.« Gowers versuchte es noch einmal mit Freundlichkeit. »In einem gewissen Sinne arbeite ich also für Sie.«
»Jeder hier arbeitet für mich! Ich bin die Prinzessin von Delhi und Oudh. Meine Hunde sind mehr wert als Sie!«
Angesichts dieser Beleidigung fragte sich Gowers, ob es die persönliche geistige Zerrüttung oder doch jahrhundertelang vererbte Eitelkeit war, die diese Frau so unbesonnen mit ihm reden ließ. Erst im weiteren Verlauf des Gesprächs begriff er, was es der bösen Absicht bei all ihren Taten in Lakhnau so leicht gemacht hatte. Zamani Begum mochte arrogant geboren worden sein, und zweifellos war sie verwirrt und verzweifelt durch das, was ihr seit der Rebellion widerfahren war, aber da war noch etwas: Nawab Sha Zamani Begum, Prinzessin von Oudh, war dumm.
95.
Das Lästige an dummen und
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