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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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gefesselt, dass er sie und ihre kleine Angst völlig vergaß.
    Schon als er den ersten der oberen Räume betrat, löste sich ein Rätsel, das ihn seit Delhi und seinem ersten Nachdenken über den Fall beschäftigt hatte. Es waren Flaumfedern. Es war Vogeldreck. Es war eine tote, schon fast vollständig verweste Taube, die unter einer Fensterbrüstung lag.
    »Gehen sie den Fäden nach«, hatte Coryate gesagt, als er nach der Spinne gefragt hatte, und hier, endlich, hielt er die Fäden oder doch die Reste der Fäden in der Hand, die die böse Absicht mit denjenigen verband, die sie ausführten.
    Betäubt von der langen Nacht und dem Aufenthalt in dem stickigen dumpfen Turm, aber auch ein wenig euphorisch durch die vielen neuen Erkenntnisse und diese entscheidende Entdeckung, stieg er bis auf die Plattform hinauf und stand unter einem Himmel, in dem die Sterne schon nicht mehr zu sehen waren. In etwa einer Stunde würde es hell werden, würde der Muezzin das Minarett der Inambara-Moschee ersteigen und die Gläubigen aufrufen, Allah für den neuen Tag zu danken. Die verrückte Idee, dem Mann zuvorzukommen, juckte eine Sekunde lang in Gowers’ Hals, dann schluckte er sie hinunter, trat an die Brüstung und sah hinab auf den immer noch schwarz nach Osten strömenden Fluss.
    Er erkannte das Ghat, eine nachtgraue Masse von Stufen, und auf den Stufen eine in schwarze Schatten gehüllte kleine Gestalt, die schon bis zu den Knien im Wasser stand. Er hörte das Rauschen der Strömung und das leise Gurgeln von Verwirbelungen im Wasser, wie große, schwimmende Tiere sie verursachen.
    »Nein!«, schrie Gowers im gleichen Moment, in dem Niazoo lautlos unter Wasser gezogen wurde, und weckte so doch noch den einen oder anderen Bettler, der in der großen Ruine von Farhat Bakhsh für eine Sekunde irritiert den Kopf von seinem armseligen Nachtlager hob.
     

96.
     
    Es gab sie seit zwei Millionen Jahren in nahezu unveränderter Form. Ursprünglich aus den Hochebenen Chinas stammend, hatten sie sich zeitweise über die gesamte nördliche Hemisphäre ausgebreitet. Vor hundertfünfundzwanzigtausend Jahren kamen sie über die Bering-Landbrücke nach Amerika und wanderten neugierig Richtung Süden, bis nach Nebraska und New Jersey, ehe sie sich – vor allem vor den Menschen – wieder in den hohen Norden zurückzogen.
    Sie hatten Mammuts, Riesenfaultiere und Säbelzahnkatzen aussterben sehen, überlebten sechs Eiszeiten und hielten Temperaturen von minus siebenundsechzig Grad stand, ohne dabei aufzuhören, unter dem Schnee nach Nahrung zu suchen oder ihre Jungen zu säugen. Wenn es überhaupt ein Tier gab, das zweitausendmal tausend Jahre lang meist das Richtige getan hatte, war es Ovibus moschatus , die schafsähnliche Kuh mit dem Moschusgeruch, oder Oomingmaq , das Tier mit der Haut wie ein Bart, wie die Eskimos den Moschusochsen nannten. Hervorragend an seine eisige Umwelt angepasst und gegen seine hauptsächlichen Feinde, die großen Wölfe, gerüstet, war er mit allem fertiggeworden – bis Sergeant John Woon von den Royal Marines vor ihm auftauchte.
    Woon war unbestritten der beste Jäger der Investigator , gefolgt von dem seltsamen deutschen Prediger. Aber diesmal hatte auch er sein Ziel verfehlt; einen einzelnen alten Rentierbullen, den er lediglich angeschossen und danach stundenlang, Meilen um Meilen verfolgt hatte, bis der jämmerlich kurze Februartag vorüber war und er die Schweißspur nicht mehr erkennen konnte. Auf dem Rückweg begann es schon wieder zu schneien, und der Wind trieb ihm die feinen Schneekristalle so scharf ins Gesicht, als wären es winzige Klingen.
    Als er in Lee von etwas, das er für niedrige Eishügel hielt, Schutz suchte, hatten sich die Hügel zu seinem Entsetzen plötzlich erhoben, den Schnee abgeschüttelt und ihn aus großen goldbraunen Augen angestarrt. Das Erstaunen war wechselseitig; die Tiere, zwei ausgewachsene Moschusochsen und ihr Kalb, waren das Urtümlichste, was der Sergeant je gesehen hatte. Anderthalb Meter hoch, zweieinhalb lang, bedeckt von einem zottigen Fell langer Haare, die bis in den Schnee reichten, sodass er ihre Beine kaum erkennen konnte. Sie sahen ihn umso deutlicher. Ihre Augen hatten eine doppelte Netzhaut, um die Bilder der Welt in der Dunkelheit und dem schwachen Licht des Winters zu verstärken.
    Ein seltsamer Wolf! Bedeckt von einem glatten, dunklen Fell, auf dem der Schnee schmolz und das deshalb für ein Leben in Eis und Schnee höchst ungeeignet war. Seine hohen

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