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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dabei gleichzeitig eingebildeten Menschen ist, dass sie klare Antworten auch auf einfachste Fragen meiden wie der Teufel das Weihwasser, um sich keine Blöße zu geben. Um Auskünfte von solchen Menschen zu erhalten, muss man ihnen nicht nur ständig schmeicheln, sondern auch in ermüdendem Maß um die Ecke denken; Fragen stellen, die ihnen harmlos erscheinen und die deshalb keine Gegenfragen provozieren. Das Gespräch mit der Prinzessin von Oudh war darum eine langwierige, nervtötende Aufgabe für den Investigator, und viermal wurde die Kerze in Niazoos kleiner Laterne ausgewechselt, ehe er am entscheidenden Punkt war.
    Offenbar hatte jemand schon früh eine Zuträgerin oder Spionin in Zamani Begums unmittelbarer Nähe platziert, eine mysteriöse Person, der sie sich anvertraute und von der sie sich beraten ließ. Anscheinend hatte diese Frau der Prinzessin auch jahrelang mit magischen Praktiken, Horoskopen und dergleichen zur Seite gestanden, und obwohl Zamani Begum selbst sie immer nur als »das Orakel« bezeichnete – falls Ishrats Übersetzung richtig war –, nannte Gowers sie doch schlicht: die Hexe.
    Die Hexe war schon lange vor der großen Meuterei in Lakhnau aufgetaucht und anscheinend zuerst mit Ruqaia, der Schwester Zamani Begums, bekannt geworden. In Anbetracht der Tatsache, dass in Lakhnau alle Kinder Ruqaias tot geboren worden waren, beflügelte die Anwesenheit einer Zauberin in ihrer unmittelbaren Umgebung natürlich die Fantasie des Investigators, zumal später ja auch die kleinen Töchter Zamanis hier einer unbekannten Krankheit erlegen waren. Er fragte dieser Hexengeschichte sehr intensiv nach, erfuhr aber nur, dass die Unbekannte die Residenz schon vor mehr als drei Jahren verlassen hatte, also mit der Entdeckung und Ermordung des Prinzen nicht in Zusammenhang stehen konnte. Oder doch?
    »Wo hat diese Frau gelebt?«
    »Hier.«
    »Hier in Lakhnau?«
    »Hier an dieser Stelle. In diesem Turm.«
    Gowers sah die Wände des düsteren Gebäudes sofort mit anderen Augen an. Ob sie allein gelebt habe? Nein, sie habe selbstverständlich Dienerinnen gehabt. Ob die Dienerinnen mit ihr fortgegangen seien? Alle bis auf zwei, unfähige junge Dinger, die von den Palastdienern schwanger geworden seien. Bis vor Kurzem habe man sie hier im Turm noch mit Lebensmitteln versorgt. Nun seien auch sie fort.
    »Bis wann genau waren sie noch da?«
    »Bis zu Niazoos Abreise nach Delhi.«
    Das Bild der Ereignisse begann sich in seinem Geist abzurunden. Obwohl Zamani Begum beteuerte, dass sie weder gegenüber dem Orakel noch gegenüber dessen Dienerinnen je offen über den Prinzen und seine Anwesenheit in Delhi geredet hatte, war dem Investigator klar, dass jedem auch nur halbwegs aufgeweckten Spitzel nicht entgangen sein konnte, dass die Prinzessin stets um ihre Töchter, ihre Schwester, ihren Gatten, aber nie um ihren Sohn getrauert hatte.
    In der östlichen Fensteröffnung, bisher nur ein schwarzes Loch in der schwach beleuchteten Wand, zeigten sich, vorerst nur Gowers’Augen erkennbar, die ersten Anzeichen eines neuen Tages. Zamani Begum wirkte unübersehbar erschöpft, ihr Kopftuch verrutschte, und einzelne Strähnen ihrer verwahrlosten Haare kamen zum Vorschein. Sie waren grau. Gowers beendete deshalb die Befragung so ehrerbietig, wie er es vermochte. Die Wahnsinnige hatte ihm mehr verraten, als er erhofft hatte. Niazoo begleitete ihn und Ishrat, aber anstatt wieder auf die Terrasse zu gehen und den Rückweg anzutreten, schickte der Investigator sich an, in den Turm hinaufzusteigen.
    »Sahib?«, fragte die alte Dienerin, als er schon die ersten Stufen genommen hatte. Gowers wandte sich zu ihr um. »Ja?«
    Mit unruhigen, angsterfüllten Blicken schaute Niazoo auf die große Wächterin der Zenana , und der Investigator wies seine Begleiterin hinaus. Leise und in gebrochenem Englisch sagte Niazoo: »Mein Opfer, für Sayyid, es war an diesem Ort. Hat das die Bedeutung, die ich denke, es hat?«
    »Nein«, log Gowers, so überzeugend er konnte. »Du hast nichts falsch gemacht. Niemand wird dir etwas tun!« Er war so begierig, in die oberen Stockwerke dieses Turms zu gelangen, dass er die ebenso bedrückenden wie richtigen Schlussfolgerungen, die Niazoo aus allem gezogen hatte, was sie wusste und gehört hatte, weniger ernst nahm, als er es hätte tun sollen. Er registrierte noch, dass sie nicht wieder zu ihrer Herrin hineinging, dachte sich aber auch dabei nichts, denn seine Aufmerksamkeit wurde so sehr von etwas anderem

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