Das blaue Siegel
sie damals gewesen war, und sie schlug ihr hart ins Gesicht, wieder und wieder, Ohrfeigen links und rechts, schließlich Faustschläge, bis ihr schönes Gesicht feuerrot war, ihre Lippen aufplatzten und ihr Mund blutete. Die Macht, die sie über dieses weinende junge Wesen hatte, das nicht wusste, wie ihm geschah und für welche Tat es so grausam bestraft wurde, ernüchterte sie ein wenig.
»Es ist gut«, zischte sie durch das feuchte Tuch. »Es ist gut!« Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen des Mädchens fort, streichelte dann das von den Schlägen angeschwollene Gesicht. Sie tastete nach den Ohren des Mädchens, schob ihre Finger hinein und legte dabei beide Daumen auf die demütig geschlossenen Lider, bis sie fühlte, wie die Augäpfel in ihren Höhlen rollten. Sie könnte sie tief hineindrücken, um herauszufinden, wann sie platzen würden, aber das Mädchen hatte jetzt den Mund hässlich weit geöffnet und schluchzte. Ihre Nase lief, Blut tropfte von ihrem Kinn in den Schoß ihrer Herrin.
Da ließ sie das Mädchen endgültig los, drückte nur seinen Kopf auf den Boden und befahl ihm, ihre nackten Füße zu lecken. Der feine, leichte Kitzel der kleinen Zunge zwischen ihren Zehen und unter den Fußsohlen besänftigte sie vollends, ließ sie schnurren wie eine Katze, und der böse Traum war vorbei. Als das Mädchen gegangen war, las sie noch einmal die Botschaften, die zuletzt eingetroffen waren.
Der Amerikaner hatte Lakhnau verlassen und war unterwegs nach Varanasi, das die Briten Benares nannten. Diesmal ohne die Königin, aber noch immer mit seinen Soldaten, denn er war wieder auf einem Fluss unterwegs, fuhr mit zwei großen Budgerows den Gomati hinunter. Man hatte beobachtet, wie er an Bord ging. Mit jedem seiner Schritte war er ihr näher gekommen und kam ihr immer noch näher. Sie wusste nicht, was er in Varanasi wollte, aber sie wusste nun wieder, wo der Mann in etwa zehn Tagen sein würde und dass dies die vielleicht letzte Gelegenheit war, ihn aufzuhalten.
So schickte sie noch einmal ihre gurrenden Todesvögel in jede größere Stadt des Nordens, nach Patna, Allahabad, Mirzapur und Varanasi selbst, mit dem Befehl an jedes ihrer Kinder, sich dort zu versammeln, die Ghats zu bewachen und den Amerikaner um jeden Preis zu vernichten. Es mochte verrückt sein, so viele ihrer Kinder so bedingungslos zu opfern, aber welcher ihrer Schritte in den letzten zehn Jahren war nicht verrückt – und erfolgreich – gewesen?
102.
Als Richard Collinson seinem Schiffszimmermann befahl, für den kommenden Winter einen kleinen Vorrat an Billardkugeln aus Hartholz herzustellen, hielt dieser brave, geschickte Mann seinen Kommandanten ganz einfach für übergeschnappt. Tatsächlich handelte es sich jedoch um eine Idee, die nicht nur die Männer der Enterprise während ihrer Überwinterung im Minto Inlet »sehr schön packte«, wie Collinson es später formulierte. Auch als sie fünf Jahre später in England bekannt wurde, trug sie nicht wenig zu jener Legende bei, die der »Englishman« gern aus sich selbst machte: tapfer, geschickt, kühl bis ans Herz, ein wenig spleenig vielleicht, aber auch unter den extremsten äußeren Bedingungen nicht bereit, sich von seinen Liebhabereien abhalten zu lassen.
Der Billardtisch der Enterprise bestand aus massiven Eisblöcken, die man an Bord gehievt, auf die den Regeln entsprechende Größe zurechtgeschnitten, geschliffen, poliert und mit werggefüllten Banden aus Walrosshaut versehen hatte. Gespielt wurde Pool anstelle des anspruchsvolleren Carambolage , damit auch die einfacheren Gemüter an Bord sich austoben konnten, aber ansonsten war alles wie in einem britischen Herrenclub: Ein abgeschirmter »Kronleuchter« aus Sturmlaternen hing von der Rah bis dicht über die spiegelglatte Spielfläche herunter, damit die Spieler keinen Schatten warfen, und selbstverständlich durfte geraucht werden, wobei Pfeifen die eigentlich üblichen Zigarren ersetzten. Nur die Konzentrationsphasen der Spieler wurden gelegentlich unterbrochen, weil gerade die schwer spielbaren Kugeln gelegentlich am Tisch festfroren und dann vorsichtig, um die Eisplatte nicht zu beschädigen, abgelöst werden mussten.
Leutnant Gregory Parks, Dritter Offizier, aber hinter dem Kapitän unbestrittener Meister dieses Gentleman-Sports, bedauerte es fast ein wenig, als er in der ersten Aprilwoche 1852 auf eine Schlittenexpedition nach Melville Island geschickt wurde; aber wegen derlei Erkundungen war man
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