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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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zwischen Oudh und Gwalior ist älter als England, Mr. Gowers.«
    »Welchen Anteil hatten Sie persönlich an dieser Feindschaft, Begum?« Der Investigator merkte, dass diese Frage etwas veränderte, denn das regelmäßige Aufbauschen des Vorhangs kam zum Erliegen. Zinat Mahal hatte ihren Dienerinnen befohlen, die große Schaukel anzuhalten. »Anders gefragt«, fuhr Gowers fort. »Wer in Gwalior könnte Sie so sehr hassen, dass er all Ihre Nachkommen tötet?«
    »Woraus schließen Sie, dass die Mörder aus Gwalior kommen, Mr. Gowers?«
    »Sie tragen dieses Zeichen, Begum!« Er reichte die Zeichnung, die er gestern Nacht noch einmal vergrößert und auf einen Bogen Papier übertragen hatte, an Ishrat, die damit hinter dem Vorhang verschwand. Es dauerte eine Weile, bis der Investigator aus dem Getuschel jenseits der Purdha den leisen Befehl »Alle hinaus!« heraushörte. Tief verschleierte Frauen huschten an ihm vorbei, und als Letzte von allen kam die Königin selbst.
     

99.
     
    Zinat Mahal trat an eine der großen Fensteröffnungen und schaute auf einen verfallenen Innenhof, dessen Springbrunnen schon lange ausgetrocknet war. Tauben kreisten in dem kleinen Stück Himmel, das darüber zu erkennen war. Als ihr gesamter Hofstaat und sogar Ishrat den Raum verlassen hatten und nur noch Gowers und der alte Mann anwesend waren, schlug sie ihr Kopftuch zurück. Sofort fiel dem Investigator wieder auf, wie schön diese Frau einst gewesen sein musste. Noch immer war ihr Haar schwarz und glänzend, nur hatten sich einzelne Falten tief in ihr Gesicht gegraben.
    »Es gab einmal eine Prinzessin von Gwalior, Mr. Gowers«, sagte die Königin. »Ehe mein Gemahl mich kennenlernte, hatte er ein gewisses Interesse an diesem Mädchen. Und als sie eines Tages spurlos verschwand, entstand kurzzeitig das Gerücht, ich hätte etwas mit diesem Verschwinden zu tun.«
    »Und hatten Sie, Begum?«
    »Selbstverständlich nicht, Mr. Gowers«, erwiderte Zinat Mahal unwillig. »Die Frauen von Gwalior waren stets hurenhaft. Auch Raheema Raja Sahib hat allen Männern schöne Augen gemacht.«
    »Haben Sie eine Idee, was mit ihr geschehen ist?«
    Die Königin schnaubte verächtlich. »Zweifellos hat sich irgendeiner genommen, was sie allen versprach, Mr. Gowers. Man spielt dieses Spiel nicht ungestraft mit indischen Edlen.«
    »Und hat sie auch mit Ihrem späteren Mann gespielt?«, bohrte der Investigator weiter.
    Zinat Mahal reagierte mit einer Mischung aus Spott und Entrüstung. »Der Mogul von Indien hatte es nie nötig, Mädchen zu entführen, Mr. Gowers!«
    »Ich meinte: Hat er sie geliebt?«
    Die Königin schüttelte den Kopf. Coryate, der das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte, murmelte plötzlich: »Sage mir, roter Ashoka, wohin meine Schlanke denn ging.« Zinat Mahal drehte sich zu ihm um, als hätte sie etwas gestochen.
    »Wie bitte?«, fragte Gowers.
    »Nur ein Vers aus einem Gedicht, der mir gerade einfiel, John Gowers«, erwiderte der alte Mann.
    »Ja, ich erinnere mich«, sagte nun die Königin und lächelte. »Es wurden einige Gedichte gemacht auf Raheema Raja von Gwalior. Ich sagte ja, sie verdrehte vielen Männern den Kopf.« Nach diesen Worten sank sie unvermittelt und mit einer Geste der Demut vor dem Digambara auf die Knie und sagte: »Segne mich, Babu, denn meine Trauer ist unheilbar, und das Licht ist aus meinen Tagen geschwunden!«
    Zu Gowers’ Verwunderung hielt der alte Mann prompt seine rechte Hand einige Sekunden über das gesenkte Haupt der hohen Frau. »Ich segne dich, Tochter«, sagte er, aber er fügte auch hinzu: »Und ich bedaure dich, denn niemand liebt dich, und kein Auge wird um dich weinen!«
    Zinat Mahal senkte den Kopf noch tiefer und bedeutete ihnen mit einer raschen Handbewegung, dass sie entlassen waren. Coryate verließ den Raum, aber Gowers blickte noch einmal zurück und sah, dass die Königin sich wieder aufgerichtet hatte. Etwas in ihrem ausdruckslosen Gesicht erinnerte ihn an eine Geschichte, die ihm Deborah erzählt hatte, vor langer Zeit: von einem Plantagenbesitzer im Süden, der testamentarisch verfügt hatte, bei seinem Tod auch jeden zehnten seiner Sklaven zu töten, damit sein Heimgang aufrichtig betrauert würde. Er hatte diese Geschichte nie für möglich gehalten, bis er bei Flavius Josephus vom Tod Herodes des Großen las.
     

 
Teil drei
     
     

100.
     
    Sie hatte sehr spät geheiratet, erst mit zweiundzwanzig; ein deutliches Anzeichen für die vorsichtige Politik ihres Vaters, des

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