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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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hatten die Boote bei Nacht verlassen, in der ersten Nacht, irgendwo vor Mirmau, auf freier Strecke, und statt nach Südosten auf dem Fluss war Gowers jetzt mit seinem Sadhu auf beinahe geradem Weg nach Norden und Richtung Gonda unterwegs. Er war sicher, dass nicht einmal die Soldaten ihr Verschwinden bemerkt hatten; nur Ishrat und Mukhopadhyaya waren eingeweiht. Da diesmal nur wenige Diener mitreisten, würde es den beiden leichtfallen, seine Anwesenheit an Bord bis nach Benares vorzutäuschen. Aber nicht einmal sein Anwalt und seine Leibwächterin wussten, wie und auf welchen Wegen er dorthin gelangen würde.
    Jetzt war er also wieder nicht mehr als ein Chela , an der Seite eines nackten alten Mannes ohne Bedürfnisse und Besitz, wenn man von einem dünnen, noch Saft schwitzenden Wanderstab absah. Aber bei alledem blieb er Ermittler.
    »Was wissen Sie von Raheema Raja von Gwalior, Babu?«, fragte Gowers.
    »Nichts«, erwiderte der alte Mann. »Ich habe ihren Namen gestern zum ersten Mal gehört. Nur dieses Gedicht fiel mir plötzlich wieder ein.«
    »Gedichte! Lieder! Sagen!«, schnaubte der Investigator und hätte um ein Haar hinzugefügt: Und Philosophie!
    »Was müsste man von ihrem Lächeln sagen?«, murmelte Coryate und lächelte dabei selbst über seinen ungeduldigen Chela , während er fortfuhr: »Dass rote Tagnymphäen im Morgengrau sich öffnen und Korallenschöße glühn im Abendlicht und dass als Perlen Tau auf Rosenlippen leuchtet – wie Rubin. Das müsste man von ihrem Lächeln sagen!« Er sah seinen Begleiter an, der die Augen verdrehte, und stellte fest: »Sie muss sehr schön gewesen sein.«
    »Ja, aber wann?«, fragte Gowers verzweifelt. »Ich meine, von wann ist dieses Gedicht? Wer hat es gemacht, und wo haben Sie es gehört?«
    »Was? Wann? Wer? Wo?«, sagte der alte Mann immer noch lächelnd. »Das sind Ihre Fragen an die Dinge, John Gowers. Aber selbst wenn ich sie alle beantworten könnte, würden Sie das Wesen der Dinge nicht erkennen. Ebenso wenig verstehen Sie ein Gedicht allein dadurch, dass Sie wissen, wer es wann wo gemacht hat.«
    »Ohne Fragen kein Wissen«, erwiderte Gowers knapp, aber zutiefst überzeugt. »Und ohne Wissen keine Erkenntnis.«
    »Nein.« Coryate schüttelte den Kopf. »Wissen ist nicht die Mutter der Erkenntnis, allenfalls ihre Schwester. Wer weiß«, grinste er verschmitzt, »vielleicht auch nur eine entfernte Cousine!«
    »Helfen Sie mir, diese Cousine kennenzulernen, Babu«, sagte der Investigator, amüsiert über dieses Bild. »Mit der übrigen Verwandtschaft schlage ich mich dann schon allein herum.«
    »Gut.« Der Digambara nickte ernst. »Diese alten Ohren haben viele Gedichte gehört, John Gowers. Lieder der Verzweiflung und Lieder der Seligkeit, gesungen an Fürstenhöfen und Dorfbrunnen, in Indien, Persien, Griechenland, in Italien, Deutschland und in Odcombe, Somerset. Lieder und Gedichte machen den Menschen aus, John Gowers; ja, abgesehen von Herrschsucht, Goldgier und ständiger Todesangst sind sie vielleicht das Einzige, was ihn vom Tier unterscheidet. Ich kann nicht sagen, wann und wo ich das Gedicht über den schönen Mund des verschwundenen Mädchens gehört habe, aber wenn ich es vor dreißig Jahren in Delhi gehört hätte, was würden Sie daraus schließen?«
    »Dass die Königin gelogen hat, als sie sagte, dass der Mogul dieses Mädchen nicht geliebt hat.«
    »Und das heißt?«
    »Dass sie eine Konkurrentin aus Gwalior hatte.«
    »Und das heißt?«
    »Dass sie vielleicht auch gelogen hat, als sie sagte, dass sie mit dem Verschwinden des Mädchens nichts zu tun hatte.«
    »Und das …«
    »… wäre ein Motiv für die Rache an Zinat Mahal Begum!«
    »Wenn man Dinge nicht wissen kann, ist es hilfreich, sich klarzumachen, warum man sie wissen will, John Gowers.«
    Gowers öffnete den Mund, um zu sagen, dass ein Investigator genau das sein Leben lang tut, aber er verkniff es sich lieber und seufzte: »Wenn all das stimmt, muss ich sie nur noch finden, Babu!«
    Erst jetzt blieb der alte Mann ehrlich verblüfft stehen und schaute seinen Begleiter stirnrunzelnd an: »Nein, John Gowers. Wenn all das stimmt, wird sie am Ende Ihres Weges auf Sie warten!«
    »Das ist ein schwacher Trost, wenn man nicht weiß, wohin der Weg führt, Babu!«
    Coryate lächelte dazu nur, und Gowers erwiderte das Lächeln plötzlich, denn so deutlich, als hätte sie einer von ihnen tatsächlich ausgesprochen, vernahm er in seinem Kopf die Antwort: »Wer weiß das

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