Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
und einen Tobsuchtsanfall bekam. Mutwillig trat und platschte er im flachen Wasser herum, wobei »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« noch die wiederholbarste Äußerung war, die er fast fünf Minuten lang ununterbrochen brüllte. Die Männer starrten sich angesichts der Fassungslosigkeit ihres Offiziers betreten an, und die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Noch nass und vor Kälte und Beschämung schlotternd, musste Wynniat zu einem Vieraugengespräch mit dem Kapitän antreten und brach weinend zusammen, als der ihm nach vielen Vorhaltungen dann doch wieder eine Hand auf die Schulter legte.
    Um sich selbst und seinen Männern zumindest das Gefühl zu geben, auf See zu sein, ließ McClure Ende Juli das Eis rings um das Schiff sprengen, aber zu mehr als ein paar Schlägen Richtung Nordostufer reichte die Zeit nicht. Das Eis gefror sofort wieder, der Sommer 1852 war vorbei, und Doktor Armstrong meldete die ersten Fälle von Skorbut, noch bevor der Kapitän am 9. September verkündete, aufgrund der tragischen Notwendigkeit einer weiteren Überwinterung müsse er die Rationen der Männer leider noch einmal kürzen.
    Sie bekamen jetzt nur noch knapp die Hälfte dessen, was einem braven Seemann Ihrer Majestät Königin Viktorias auf allen sieben Meeren täglich zustand – aber sie waren nicht auf einem der sieben Meere, sondern in einem Teil der Welt, in dem der menschliche Körper auch unter besten Bedingungen bereits einen erhöhten Energiebedarf hat. Die Trostlosigkeit ihrer Situation tat ein Übriges, und zum Skorbut kamen Trübsinn, Schwermut und Unzufriedenheit. Die hungrigen Männer scharrten und pickten in den gefrorenen Abfallhaufen des letzten Jahres, und Mark Bradbury, ein junger Matrose, wurde wahnsinnig, nachdem ihn ein reichlich unheimliches Erlebnis um die Reste des gesunden Gemüts brachte, die ihm die jetzt dreijährige Reise der Investigator gelassen hatte.
    Er war, als Jagdhelfer eines kleinen Spähtrupps, weit im wieder gefrorenen Land unterwegs gewesen, auf das Oberflächeneis eines großen Flusses geraten und eingebrochen. Wie ein Stein verschwand er in der Tiefe, und seine herbeieilenden Genossen hielten ihn für ertrunken; aber das hätten alle Beteiligten und Bradbury selbst vielleicht noch verstanden. Der Verunglückte fand sich jedoch zu seinem nachhaltigen Entsetzen auf dem knochentrocken gefrorenen Grund des Flusses wieder, über sich, zwei Meter hoch, nichts als Eis und das kleine Loch, durch das er in diese fremde, düstere Welt gestürzt war.
    Das Phänomen war auch für die Fachleute schwer zu erklären. Ihr Eismeister Court sagte, er habe einmal von einem Isländer gehört, dass ein Fluss gewissermaßen unter seinem eigenen Eis versiegen könne. Das Wasser sinke dann immer weiter ab, weil es ja einerseits weiter Richtung Meer fließe, andererseits aber aus seinen gefrierenden Quellgebieten nicht mehr gespeist würde. Das Ergebnis könne ein völlig trockenes Flussbett unter einer in einem früheren Stadium entstandenen Eisdecke sein.
    Bradbury erreichte diese schöne Erklärung nicht mehr, denn als er mit gebrochenem Bein mitten in diesem eisigen Albtraum saß, ertönte in der durch das Deckeis grünlich schimmernden Steinwüste, die sich links und rechts in immer tiefere Dunkelheiten erstreckte, plötzlich ein schauerliches Knurren. Er war nicht der Einzige, der es hörte; die Männer seines Jagdtrupps, die ihn nach gehöriger Verwunderung wieder ans Licht zogen, bestätigten, dass sie ein unbekanntes großes Tier gehört hätten, das irgendwo in dieser Zwischenwelt leben müsse. Sergeant Woon, einer der beherztesten Männer an Bord, war noch ein paar Dutzend Meter auf sozusagen unterseeische Pirsch gegangen, dann aber gleichfalls von Entsetzen gepackt worden und unverrichteter Dinge, aber trockenen Fußes aus der Unterwelt hochgeschossen. 8
    Mark Bradbury wurde nie wieder normal und war am Anfang kaum zu beruhigen. Er schrie und schlug um sich in seinem Entsetzen, dass drei Männer ihn trotz seines gebrochenen Beins kaum halten konnten. Die Angst ließ seine Augen nicht mehr – nie wieder – stillstehen. Später weinte er nur noch und war auch zu einfachsten Arbeiten kaum zu gebrauchen. Er sprach laut mit seiner Mutter und seinen Brüdern und schien nicht mehr zu wissen, wo er sich befand. Aber vielleicht war das auch besser so, denn ihr zweiter Winter in der Mercy Bay, ihr dritter im Eis, war ein einziges düsteres Delirium des Hungers und der Hoffnungslosigkeit.
     

104.
     
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher