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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dass sie sich gegenseitig gegessen hatten. Da liefen wir weg.
    Als wir im Herbst noch einmal an die Stelle kamen, waren die Toten fast ganz vom Sand bedeckt, allerdings hörten wir manchmal ein kurzes scharfes Donnern (Schüsse?) weit draußen im Land und blieben nicht lange da. Wir hatten Angst, dass vielleicht doch noch nicht alle tot waren.«
    Die gleiche Geschichte brachte John Rae, ein Trapper der Hudson Bay Company, der 1854 auf Boothia Island in der Pelly-Bucht jagte, nach England zurück. Collinson, ein Jahr früher, sah nur eine verängstigte junge Frau vor sich, die man ihm offenbar verkaufen wollte, und lehnte dieses Angebot kategorisch ab.
     
    McClure gab der versammelten Mannschaft am nächsten Morgen seinen Entschluss bekannt: Da der Proviant nur noch bis in den November reiche, man aber nicht wisse, ob das Eis in diesem Jahr aufbrechen würde, habe er beschlossen, die Hälfte von ihnen aus dem Schiffsdienst zu entlassen.
    Diese von Doktor Armstrong auszuwählenden Männer würden mit Reiseproviant von einem Pfund Fleisch und einem Pfund Brot pro Tag nach Süden reisen, bei dem auf den Princess Royal Islands errichteten Depot drei Monate in Zelten leben und jagen, um das bekanntlich sichere Abschmelzen des südlichen Eises abzuwarten, sodann mit den dort zurückgelassenen Booten entlang der Küste von Prince-Albert-Land weiterziehen, über die Dolphin & Union Strait auf das amerikanische Festland übersetzen und den Mackenzie aufwärts zur nächsten Handelsstation der Hudson Bay Company, dem Fort Good Hope, marschieren. Die Auswanderer würden einen Monat vor ihrer Abreise, Mitte April, volle Rationen bekommen, sowie freie Zeit und Beleuchtung, um sich feste Kleider und Schuhe für die Reise anzufertigen. Mr. Miertsching würde diese Gruppe als Dolmetscher begleiten, sodass von den Eskimos keine Gefahr, sondern im Gegenteil allerlei Hilfe zu erwarten sei. Die übrigen Männer würden mit ihm an Bord bleiben, im Sommer erneut versuchen, ihren Eiskäfig zu verlassen, und, falls dies fehlschlage, nach einer weiteren Überwinterung das Schiff aufgeben und den gleichen Weg nach Süden antreten.
    Die Offiziere wussten sofort, was dieser Befehl bedeutete; aber die Männer, gerade die schwächsten, für die Reise ausgesuchten, waren begeistert. Kein Winter mehr in dieser entsetzlichen Einöde, stattdessen volle Rationen, ein klares Ziel und – der Heimweg! Tag für Tag kräftiger werdend durch die bessere Ernährung, bedauerten sie sogar diejenigen, die an Bord bleiben mussten. Der Feuereifer, mit dem sie nähten, flickten, schusterten, um ihre Achthundert-Meilen-Reise durch die arktische Wüste anzutreten, war vor allem für Doktor Armstrong erschütternd, denn er wusste, dass es ein Todesmarsch werden würde.
    Keiner dieser Männer war gesund, auch wenn sie sich jetzt kurzfristig stärker fühlten; bei allen würde der Skorbut nach wenigen Wochen des Schlittenziehens wieder ausbrechen, ein Pfund Fleisch täglich hin oder her! Er machte mehrere Versuche, dem Kapitän diesen Wahnsinnsplan auszureden, aber der wollte nichts davon hören, verwies auch auf das Fehlen jedweder Alternative und verbot dem Arzt schließlich, ihm mit seinen Klagen noch einmal unter die Augen zu kommen. Was Armstrong daraufhin tat, war praktisch offene Meuterei: Er stellte den Männern selbst vor Augen, dass sie in den Tod gehen würden. Aber ihre Aufbruchstimmung war über jede Vernunft erhaben, und so formulierte der Arzt seinen ohnmächtigen Protest schriftlich und versiegelte ihn, damit man ihn zumindest zusammen mit den Leichen fände.
     

112.
     
    Fast, als wolle sie die allgemeine Euphorie noch steigern, schien die Sonne jetzt ganze Tage, war der Himmel von einem so strahlenden Blau, dass John Gowers seine urtümliche Schneebrille wieder hervorholen musste. Die Stimmung blieb glänzend, bis am 6. April 1853 der Matrose und Krankenpfleger John Boyle starb.
    Boyle war das erste Todesopfer an Bord der Investigator . Er hatte den ganzen Winter hindurch an Skorbut gelitten, war aber kräftig genug geblieben, um dem Arzt bei der Versorgung der übrigen Kranken zu helfen. Durch die vollen Rationen hatte er im letzten Monat schon beinahe ein Drittel der fünfunddreißig Pfund Gewicht, die er bis dahin verloren hatte, wieder zugelegt. Tatsächlich war er einer der Kräftigsten unter den »Auswanderern« gewesen, so sehr, dass seine Kameraden ihn sogar schon ironisch mahnten, mäßiger zu essen, sonst müsse er am Ende doch noch an

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