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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Fuß zurücklegen. Da die Dufferin Bridge erst zwanzig Jahre später gebaut wurde, hatten die Reisenden nur die Möglichkeit, entweder die Schiffsbrücke im Norden der Stadt zu benutzen oder sich in kleinen Barkassen an beliebiger Stelle über den Fluss setzen zu lassen. In beiden Fällen waren die Ghats das Erste, was sie von Benares sahen.
    Hier war das Zentrum des Brahmanismus, war der Wallfahrtsort, den jeder gläubige Hindu einmal im Leben zu sehen versuchte. Viele kamen tatsächlich nur, um hier zu sterben, denn wer hier starb und im Wasser des Heiligen Flusses aufgelöst wurde, hatte die beste Chance, den Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen. Es gab sogar spezielle Herbergen für diese Pilger, eingerichtet in den von ihren Herren verlassenen, den Göttern und Armen gestifteten Palästen oberhalb der Ghats. Viele Hunderte warteten hier in großen Sterbesälen auf ihr Ende, den Blick starr auf den gleißenden, trägen Strom gerichtet. Und wem das zu lange dauerte, der konnte sich gegen geringen Aufpreis auch gleich in der Ganga ertränken lassen, denn, so spricht der Erhabene:
     
    »Ich bin Anfang, Mitte und Ende aller Geschöpfe,
    Unter den Aditya bin ich Vishnu,
    Unter den Lichtern die strahlende Sonne,
    Von den Bergen der Himalaya.
    Ich bin die nie vergehende Zeit
    Und Ursprung dessen, was sein wird.
    Unter den Lauten bin ich das A
    Und von den Flüssen der Ganges.«
     
    Seit Daddy alle Geschäfte aufgegeben hatte, unvorstellbar reich geworden durch riskante Spekulationen auf Weizen am Anfang des Krieges, reisten sie nur noch durch die Welt. Daisy hatte ihren fünfzehnten Geburtstag in London gefeiert, ihren sechzehnten in Florenz, den siebzehnten in Alexandria, und den achtzehnten würde sie wohl in Indien begehen, nach den gierigen Blicken ihres Vaters auf die tausend Tempel, Treppen und das malerisch wimmelnde Volk zu schließen.
    Charles Taylor sah die Welt praktisch nur noch auf dem Kopf stehend, seit er drei Jahre zuvor in London zum ersten Mal durch das Korrekturobjektiv einer zweiäugigen Dancer -Kamera geblickt und dieses Wunderwerk sogleich käuflich an sich gebracht hatte. Zwar brauchte man ständig mindestens zwei Diener, die den Wechselkasten und das Stativ trugen, zwar mussten die Lichtverhältnisse stabil sein und gelangen befriedigende Aufnahmen eigentlich nur im grellsten Mittagslicht, aber, Herrgott, man konnte die Welt einfangen und würde sie daheim im Salon aufhängen!
    Daisy konnte sich an New York schon gar nicht mehr erinnern. Sicher, sie hatte das alte Europa gesehen, alle möglichen zugigen Schlösser aus dem Mittelalter, den Louvre, die Uffizien, hatte im Kolosseum gestanden, vor der Akropolis und am See von Genezareth – für jeweils zwei Aufnahmen, also fast zwanzig Minuten lang nahezu unbeweglich, und wahre Schweißbäche waren dabei Rücken und Beine hinunter bis in ihre Schnürschuhe gelaufen. Ein Wunder, dass es nicht quietschte und quatschte, wenn sie ging!
    Wunder hatte sie also gesehen, Wunder in rauen Mengen, mehr vielleicht als jedes andere Mädchen in ihrem Alter; aber wie sollte sie unter diesen Umständen jemals zu einem Verehrer kommen? Ihrer Mutter machte all das nichts aus. Man reiste ja standesgemäß, Geld spielte keine Rolle. Sie verließ nur selten ihre luxuriösen Suiten, und Daisy hatte manchmal den Verdacht, dass ihre Mum inmitten all der sozusagen exterritorialen, sich ständig wiederholenden Pracht der Nobelhotels nur an der Hautfarbe der jeweiligen Diener unterschied, ob sie sich nun in Italien, Palästina oder eben in Indien befand.
    Tatsächlich stellte Mary Taylor, Maklertochter in der dritten Generation, mit den Hotelpagen, Fremdenführern und – freiheraus: Kutschern der bereisten Länder ethnografische Vergleichsstudien ganz anderer Art an,während ihr fünfzehn Jahre älterer Gatte die Schönheiten und Schätze der Welt auf eine immer größere Sammlung von Glasplattennegativen bannte – oft mit der gemeinsamen Tochter als Maßstab im Vordergrund.
    Das Mädchen wurde allmählich … ungeduldig. Ja, so konnte man diesen Zustand nennen, den Mary in ihrer noch nicht allzu lange zurückliegenden Jugend selbst besser kennengelernt hatte, als ihr recht gewesen war. Es war damals schon schwer genug! Ein pubertierendes Gemüt durch drei Jahre und mittlerweile sechzehn Länder zu schleppen musste den Tantalusqualen gleichkommen, und sie bewunderte ihre schöne, schlanke Daisy, die dabei so tapfer durchhielt. Womöglich würde sie es

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