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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Bord bleiben.
    Nun starb er binnen zweier Tage, und das gab den Männern doch endlich zu denken, und alle Einwände des Doktors fielen ihnen wieder ein. McClure und seine Offiziere begegneten dieser Skepsis, indem sie das Gerücht in die Welt setzten, Boyle, der als Krankenpfleger Zugang zur Medikamentenkiste gehabt habe, sei auf den irrsinnigen Gedanken verfallen, die Reste aus verschiedenen aufgebrauchten Medizinflaschen zu sammeln, zusammenzugießen und zu trinken. Offenbar habe er geglaubt, auf diese Weise gleich mehreren Krankheiten gleichzeitig vorzubeugen, und allein aufgrund dieses unsinnigen Verhaltens sei er derart rasch zu Tode gekommen. Die Stimmung besserte sich dadurch aber nur unwesentlich.
    Den gefrorenen Boden der Mercy Bay auch nur auf einen Meter Grabestiefe aufzuhacken war eine schwere Arbeit, und der Kapitän selbst ging am 7. April 1853 mit an Land, um die Totengräber zu unterstützen. Das Wetter blieb, ihrer traurigen Pflicht zum Hohn, strahlend schön. Als er sein Teil getan und die Picke an den Matrosen Anderson weitergegeben hatte, beschloss McClure deshalb, ans Ende der Bucht zu gehen und den nach langer Zeit wieder einmal fälligen persönlichen Blick auf das Meereis zu werfen. Er lud den Missionar Miertsching ein, ihn zu begleiten. Der Dolmetscher hatte beschlossen, den Kommandanten noch einmal eindringlich auf die Bedenken des Schiffsarztes hinzuweisen. Der aber schüttelte nur den Kopf: »Ihre Chance ist klein, Mr. Miertsching, aber sie ist da! Hier ist nur der sichere Tod.«
    Sie waren jetzt an der Stelle, wo das Meereis an die gefrorene Küste stieß und der Erste Offizier, Charles Haswell, die Eiswache hatte. Als der Kapitän »Hier …« sagte, machte er automatisch eine ausladende Handbewegung in die weiße Einöde hinaus. Dabei fiel ihm ein kleiner schwarzer Punkt auf dem Eis auf, der sich ihnen von Nordosten her näherte. Es konnte eigentlich nur ein verirrter Moschusochse sein, aber nach weniger als einer Minute machte er den Blick eng: Da draußen war ein Mensch unterwegs.
    Leutnant Haswell hatte ihn ebenfalls gesehen und stellte fest, dass er anders gekleidet war als die Männer der Investigator . »Ein Mann aus der Schlittengruppe wird seine neue Reisekleidung ausprobieren«, sagte der Kapitän. Aber Haswell, der unablässig durch das Fernrohr blickte, erwiderte kopfschüttelnd: »Keiner von uns, Sir!«
    Auch der Fremde hatte sie jetzt bemerkt, denn er rannte direkt auf sie zu und begann wie wild mit den Armen zu winken. Auch schien er ihnen etwas zuzurufen, aber der Wind zerfetzte seine Schreie, und so konnten sie nur mit offenem Mund seinen immer schnelleren Lauf verfolgen.
    »Ein Eisbär muss hinter diesem Eskimo her sein«, sagte der Kapitän, ließ sich von Haswell das Glas reichen, fand aber weder ein Raubtier noch einen Eskimo, sondern stellte etwas viel Erschreckenderes fest: Der Mann da draußen war rabenschwarz im Gesicht!
    McClure wusste genau, dass Charles Anderson einen halben Kilometer hinter ihm ein Grab aushob, und hielt jetzt nur noch den Atem an. Zu seiner späteren Beschämung fiel ihm wieder nur Mary Shelleys Frankenstein ein, und hätte er eine Waffe gehabt und wäre die unheimliche Gestalt, die auf sie zuraste, nur um weniges größer gewesen, hätte der Mann auf dem Eis ein ernstes Problem bekommen.
    Der Fremde stolperte jetzt mehrmals vor Erschöpfung nach seinem langen Sprint; fiel hin, rappelte sich hoch und wurde allmählich langsamer. Dafür verstanden sie jetzt zum ersten Mal, was er schrie: »Ho, Investigator . Ho!« Es war offensichtlich, dass er hocherfreut war, sie zu sehen, denn er grinste wie ein Verrückter über das ganze schwarz angemalte Gesicht, als er bei ihnen anlangte.
    »Wer zum Teufel sind Sie?«, rief McClure.
    »Pim, Sir«, keuchte der Mann überglücklich, »Pim!« Als sei damit alles gesagt, lachte er, schlug sich auf die Schenkel und stützte dann keuchend beide Hände in die Hüften, ehe er fortfuhr: »Zweiter Offizier an Bord Ihrer Majestät Schiff Resolute , Kapitän Kellett, das zurzeit vor Dealy Island liegt!«
     

113.
     
    Das Rom Indiens – gegründet in der Tat nur ein Jahrhundert, nachdem Romulus seinen Bruder erschlug – lag am westlichen Ufer der hier für viele Meilen nach Norden strömenden Ganga. Wer mit der Eisenbahn »up country«, also von Kalkutta heraufkam, musste deshalb in der kleinen Bahnstation Mughal Sarai aussteigen und die letzten zehn Kilometer mit Kutschen, Ochsenkarren, Palankinen oder zu

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