Das blaue Siegel

allerdings wahr geworden: Er stand wahrhaftig Hunderten von Eskimos gegenüber – allerdings mit dem Unterschied, dass er keinen Dolmetscher und daher keine Ahnung hatte, was diese schmutzigen, aber sonst ganz ungefährlichen Menschen ihm zu sagen versuchten. Das war vor allem deshalb bedauerlich, weil man bei ihnen ein großes Stück Holz fand, das zweifellos einmal Teil einer Ladeluke gewesen war, sowie einen Metallknopf, der zu einer britischen Offiziersuniform gehört haben musste. Selbstverständlich handelte man ihnen die Sachen ab, und einen ganzen Nachmittag lang befragte Collinson sie mit einem sehenswerten pantomimischen Geschick darüber.
    Er wies auf den Knopf, dann, mit weit ausholender Geste, auf den Horizont, zuckte die Achseln: Wo ist der hergekommen? Er zeigte auf die Augen eines Mannes, eins, zwei, legte dann die Hand über seine eigenen Augen und tat so, als suche er etwas in der Ferne. Beschrieb anschließend einen Kreis um sein bleiches, bärtiges Gesicht, deutete auf seine Matrosen, suchte wieder den Horizont ab, zuckte die Achseln: Habt ihr weiße Männer gesehen? Er führte einen Mann an die Ladeluken der Enterprise , zeigte dann auf das Stück Holz, das er soeben käuflich an sich gebracht hatte, zeichnete ein Schiff in die Luft, hob zwei Finger, suchte im Norden, im Osten und zuckte zum dritten Mal mit den Achseln: Habt ihr zwei Schiffe gesehen?
    Er hätte jetzt viel für ein englisches Wörterbuch und eine deutsche Grammatik gegeben, und sämtliche Rumvorräte an Bord für nicht mehr als eine halbe Stunde mit dem gottverdammten Missionar eingetauscht. Aber irgendwann brach er seine Vorstellung ab, schweißgebadet und durch das Geplapper der Wilden keinen Deut klüger geworden. Immerhin, sagte er sich sarkastisch, hatte er ein morsches Stück Holz und einen alten Hosenknopf gefunden, sodass niemand mehr behaupten konnte, Sir John Franklin, hundertdreißig britische Seeleute und zwei komplette Schiffe Ihrer Majestät der Königin seien spurlos im Eis verschwunden. Aber war er dafür in drei Jahren um die halbe Welt gesegelt?

111.
     
    Am komischsten war, dass sie ihn durchaus verstanden. Sie wussten, was er wollte, in Bezug auf Knöpfe, Schiffe und weiße Männer. Und sie erzählten ihm die Geschichte so, wie sie sie von ihren Verwandten, den Pelly-Bay-Eskimos auf Boothia, zweihundert Meilen östlich, gehört hatten. Sie brachten ihm sogar eine Augenzeugin, denn einer ihrer Jäger hatte im vergangenen Sommer in der Pelly-Bucht eine Frau genommen.
    Sie hieß Mani, war etwa fünfzehn Jahre alt, sehr hübsch und die Einzige unter ihnen, die tatsächlich schon einmal weiße Männer gesehen hatte. Deshalb war sie auch nur schwer zu bewegen, nach vorn zu kommen und mit dem Angajuga der Kabloonas zu sprechen. Erst als ihr Mann und noch zwei weitere Jäger ihr versicherten, sie auf keinen Fall an die Weißen zu verkaufen und sie auch nicht mit ihnen allein zu lassen, erzählte sie stockend und mit gesenkten Blicken die unheimliche Geschichte, die sie als Kind erlebt hatte. Es war eine scheußliche Erinnerung.
    »Wir lebten in jenem Winter (wahrscheinlich 1849/50) im Westen, auf der Insel-der-flachen-Steine (King William Island). Eines Tages sahen wir eine große Menge Kabloonas (etwa vierzig weiße Männer), die in langer Reihe von Norden kamen. Sie waren sehr hungrig und so müde, dass sie beim Gehen hinfielen. Aber ihr Anführer, ein großer Mann mit roten Haaren (Crozier), zwang sie, immer wieder aufzustehen. Sie gaben uns viele glänzende Dinge (silbernes Essbesteck mit eingravierten Initialen) und nahmen dafür den einzigen Seehund, den wir noch hatten. Der Anführer sagte durch Zeichen, er würde uns noch mehr geben, alles, wenn wir ihnen nur mehr Essen brächten. Aber wir hatten selbst nicht mehr viel zu essen, denn die Jagd war schlecht. Endlich gingen sie weiter, nach Süden, wo das Land endet (Peabody Point).
    Im darauffolgenden Sommer fanden wir sie wieder, aber auf dem großen Land (der Adelaide-Halbinsel) in einer sandigen Bucht (Starvation Cove). Sie waren alle tot, überall lagen ihre Körper, ihre Kleider, alles in Fetzen. Manche lagen unter dünnen weißen Decken (Zeltplanen), andere im Freien. Der rothaarige Anführer war auf sein Gesicht gefallen und lag auf einem langen, eisernen Stock (ein Gewehr?). Wir fanden wieder glänzende Dinge (u. a. einen silbernen Teller mit Franklins Wappen) und nahmen sie mit. Aber dann sahen wir das Menschenfleisch in ihren Kochtöpfen und auch,