Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
demnächst riskieren, ihrer Tochter beizubringen, wie man inmitten solcher Flauten des Lebens zu mehr … Geduld kam.
     

114.
     
    Benares war schauerlich schön! Als Charles Taylor nach einer ersten kurzen Inspektion den Fluss entlang vorsichtig andeutete, dass das eine oder andere für Damen vielleicht kein angenehmer Anblick sein würde, waren seine Frau und seine Tochter natürlich kaum noch zu halten gewesen.
    Schon der früheste Morgen fand deshalb die kleine Reisegesellschaft mitsamt Kamera und entsprechender Dienerschaft an Bord einer geräumigen grünen Barkasse, an deren Oberdeck bequeme Korbstühle und große geflochtene Sonnenschirme aufgestellt waren. Auch für das leibliche Wohl der Fahrgäste war bestens gesorgt. Früchte, kalter Braten und bereits hergerichtete Butterbrote sowie mehrere Flaschen Wein – eben ein komplettes indisches Picknick – standen am kühlen Boden des Bootes bereit. So ließen sie sich langsam flussabwärts treiben, immer auf Höhe der Ghats und manchmal nur wenige Meter davon entfernt.
    Wo das Auge länger verweilen wollte, mussten die Ruderer das Boot gegen die Strömung auf der Stelle halten. Und dem Auge wurde etwas geboten! Charles Taylor bedauerte zutiefst, dass die Verschlusszeiten seiner Dancer Aufnahmen vom Boot aus so gut wie unmöglich machten. Schon die ständige Bewegung der Kamera auf den Planken würde sie verderben, und auch die drei-, vier-, fünfhundert Inder, die an jedem der zahlreichen Ghats ihr rituelles Morgenbad in der Ganga nahmen, würde man wohl kaum dazu bringen können, mindestens acht Minuten – Taylor blinzelte kurz in die schon am frühen Morgen heiß brennende Sonne – sagen wir: sechs Minuten so bewegungslos wie möglich zu verharren.
    Nein, es gab Eindrücke, die ließen sich von Normalsterblichen eben nicht einfangen, dazu müsste man schon ein Künstler sein. Er hatte einmal ein Künstler werden wollen, irgendwann mit vierzehn Jahren oder so, aber sein Vater, Sam Taylor Farming Tool & Machines , hatte ihm diese Idee nachhaltig ausgetrieben. Als Künstler hätte er sich eine Reise nach Indien natürlich auch kaum leisten können, also erst gar nicht gesehen und umso weniger gemalt, wie das farbenprächtige Menschengewühl auf einem solchen Ghat hin und her wogte.
    Während die Neuankömmlinge ihre Kleider ablegten – zumindest die Männer, bis auf die Hüfttücher – und die Frauen ihre glänzenden schwarzen Haare lösten, wühlten Hunderte anderer schon mit sichtlichem Vergnügen das Heilige Wasser auf, tauchten unter, kamen prustend und glücklich wieder hoch, schwammen ein wenig oder verharrten, bis zu den Hüften im Fluss, zu kurzen Gebeten oder weniger religiösen Verrichtungen. Andere, frühe Vögel, hatten ihre Reinigung schon vollzogen, saßen schwatzend auf den warmen Stufen und streckten sich zum Trocknen in der Morgensonne oder kämmten, falls weiblich, in den durch die Nässe eng anliegenden dünnen Stoffen und entsprechend reizvollen Posen ihr tropfendes Haar. Und überall Blüten, Blumen im Wasser, darunter leider auch solche, die schon vor einigen Tagen, vielleicht auch Wochen geopfert worden waren, und später, jenseits des Manikarnika-Ghats, noch etwas anderes – das die Taylors allerdings gründlich davon abhielt, ihr Picknick, zumindest den kalten Braten, auch nur anzurühren.
    »Grundgütiger!«, sagte Mary Taylor, ließ das Boot augenblicklich näher heranrudern und danach fast eine Stunde auf der Stelle stehen. Links neben dem Ranibhavani-Tempel am südlichen Manikarnika-Ghat lagen riesige Holzstapel aufgeschichtet, und rechts davon, auf der untersten Stufe, keine fünfzehn Meter von ihren Korbsesseln, Sonnenschirmen und Operngläsern entfernt, brannten die Scheiterhaufen. Sie hatten natürlich davon gelesen, aber ein brennender menschlicher Körper vermittelte Sensationen, die ihrem Reiseführer einfach nicht zu entnehmen waren.
    Auf einem der beiden kleinen Holzstöße brannte ein Mann wohl schon längere Zeit, denn er war bereits reichlich verkohlt. Arme und Beine hatten sich wie die Flügel und Keulen eines überdimensionalen Truthahns dicht an den Körper gezogen, und auch sein Penis hatte sich aufgerichtet wie ein dürrer kleiner Ast, der von der Spitze an langsam herunterbrannte. Das Ganze war kaum noch als Mensch zu erkennen.
    Anders die alte Frau, die die Domras oder Leichenbestatter jetzt auf den zweiten Scheiterhaufen legten. Er war so klein oder die Frau so groß, dass sie ihre noch aus einem

Weitere Kostenlose Bücher