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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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war aufgrund seiner Herkunft verzeihlich.
    Für John Gowers war es sogar von Vorteil, dass der Kapitän selbst lieber schmökerte, als sich komplizierteren literarischen Genüssen hinzugeben. Denn so waren es keine allzu kostbaren Ausgaben, die er sich bei jeder Gelegenheit auslieh, und so hatte McClure nichts dagegen, dass er las, wo und wann er wollte – solange es in seiner Freiwache geschah. Der bevorzugte Platz des Jungen war das Krähennest im Großmast, und auf mehreren gemeinsamen Reisen hatte sich der Kapitän daran gewöhnt und fand es sogar amüsant, hier und da Zahnabdrücke in den Einbänden seiner Bücher zu finden, denn natürlich brauchte John beide Hände, um aufzuentern.
    Dort oben, allein unter dem endlosen Himmel, saß schon der Elfjährige mit seiner Pfeife im Mund und einem Buch auf den Knien, durchstreifte Robinsons Insel, die Highlands von Robert Roy MacGregor oder mit Jack Wilton gleich das ganze alte Europa. Er genoss dieses Lesen weit mehr als in den Bibliotheken an Land, den Büchergruften, die nach Jahrhunderten Staub und schlechter Verdauung rochen, wo vertrocknete Pfaffen, Gelehrte ihr Leben über Folianten versaßen, die schon beim Niesen auseinanderzufallen drohten – und in denen er, der Schiffsjunge, der nach See, Teer und Tabak roch, nur aufgrund eines Empfehlungsschreibens seines Kapitäns misstrauisch beäugten Einlass fand.
    Hier draußen aber wurden die Bücher lebendig, er konnte es in den Händen fühlen. Wenn der Wind in die Segel unter ihm griff, einzelne Böen das Schiff voranstießen, als würde es getreten, wenn das Krähennest langsam hin und her schaukelte oder der Horizont so heftig stieg und fiel, dass der Junge sich mit steifen Beinen in seiner Position festkeilen musste, wenn eine Brise, die seit tausend Seemeilen auf kein Hindernis gestoßen war, an den Seiten unter seinen Fingern zerrte und die Sonne zwischen die Buchdeckel schien, dann saugten die Worte ihn nicht mehr hinein in die Enge: Dann drängten die Worte aus den Büchern heraus und warfen sich ihm entgegen.
     

24.
     
    »Sie dürfen die Augenbinde abnehmen, Mr. Gowers«, ertönte die angenehm weiche Stimme einer Frau, der allerdings anzuhören war, dass sie selten Englisch sprach. »Aber berühren Sie nicht den Vorhang, bitte!«
    Gowers streifte die ohnehin recht locker sitzende Augenbinde ab und sah als Erstes tatsächlich einen blendend weißen Vorhang, der den Raum teilte und ihn sofort an sein New Yorker Büro erinnerte. Dieser Vorhang – die Purdha  – war allerdings aus Seide und der Raum etwa dreimal größer als alle Zimmer, die er in seinem Leben bewohnt hatte. Alles darin machte einen seltsam zusammenhanglos vollgestopften Eindruck. In Reih und Glied ausgerichtete Bücher in dunklen Regalen, die bis zur niedrigen, holzvertäfelten Decke reichten. Ohne großen Geschmack oder Kenntnis gesammelte Bilder an den Wänden, klobige viktorianische Möbel und als Gipfel des Gesuchten ein großer, völlig nutzloser Kamin. Dennoch wusste der Investigator, was sich gehörte, oder ahnte, was von ihm erwartet wurde.
    »Eine sehr schöne Bibliothek«, sagte er. »Wie darf ich Sie anreden, Madame?« Hinter dem Vorhang nahm er eine leichte Bewegung wahr und hörte ein leises Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Die Frau antwortete mit milder Ironie: »Wie würden Sie denn Ihre Königin anreden, Mr. Gowers?«
    »Ich bin Amerikaner«, erwiderte Gowers trocken. »Wir haben keine Königin.«
    Das Geräusch und die Bewegung setzten für einige Sekunden aus, begannen dann aber gleichmütig von Neuem. »Nennen Sie mich Mahal Begum.«
    In diesem Moment bemerkte der Investigator, der sich noch immer verwundert umschaute, dass der Ankleidespiegel an der Wand sorgfältig so ausgerichtet war, dass er hinter den Vorhang sehen und von dort aus auch gesehen werden konnte. Aber da die etwa fünfzigjährige, bemerkenswert attraktive Dame, die er dort in einem Schaukelstuhl sitzen sah, so tat, als bemerke sie es nicht, musterte auch Gowers angelegentlich Bücher und Bilder. Wenn hier Theater gespielt werden sollte, würde er jedenfalls nicht als Erster aus der Rolle fallen.
    »Möchten Sie rauchen, Mr. Gowers?«
    »Gern, Mahal Begum.«
    Zinat Mahal Begum klatschte in die Hände, und Ishrat, die verschleierte Wächterin, die die ganze Zeit an der Tür gestanden und Gowers nicht aus den Augen gelassen hatte, rief einen kurzen Befehl den Gang und die Treppe hinunter.
    »Wissen Sie, was eine Hookah ist, Mr.

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