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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dieser Ermittlung? Und: Wer kannte seinen Anwalt?
    Er war erst seit einer Woche in Delhi. Was er in Bombay über Wedderburn herausgefunden und was es ihm eingebracht hatte, konnte hier nur Colonel James Robert Outram wissen und weitererzählen, vermutlich in einem der britischen Clubs. Zu denen hatte aber seines Wissens kein Inder Zutritt, selbst wenn er in England studiert hatte, es sei denn – er arbeitete für die Engländer. Arbeitete Ruhiman für die Engländer? Dann gab es nur zwei Gründe, einem »englandfeindlichen« Ermittler einen Auftrag zu erteilen. Entweder Ruhiman arbeitete noch für jemand anderen, oder sein Verdacht richtete sich gegen die Engländer.
    Seinen Anwalt kannte er selbst erst seit vorgestern. Wer ihn also über Mukhopadhyaya zu erreichen versuchte, konnte dessen Namen erst durch die gestrige Anhörung erfahren haben – oder er kannte ihn schon länger, hatte ihn vielleicht sogar beauftragt? Gowers rief sich das Gesicht des schlaksigen jungen Mannes ins Gedächtnis, seine Angaben darüber, wie er von dem Fall erfahren hatte, seine Enttäuschung über das »Honorar im Erfolgsfall«, seine erstaunten Blicke, als er ihn anpumpte, seine ehrliche Freude über die Vermittlung des unerwarteten Ermittlungsauftrags. Mukhopadhyaya war entweder ein begnadeter Schauspieler, oder er war benutzt worden.
    »Danke, dass Sie mich herausgeholt haben, Sir«, schloss Gowers versuchsweise diese Überlegungen ab.
    Ruhiman war verblüfft, dann lächelte er formvollendet. »Sie sind ein sehr guter Investigator, Mr. Gowers. Wenn Sie einen Wunsch haben, ein Bad, angemessene Bekleidung, europäisches Essen und all das, so möchte ich Sie bitten, ihn zu äußern.«
    »Europäische Zigarren oder sonst ein menschenwürdiger Tabak wären im Moment völlig ausreichend«, sagte Gowers so wenig sehnsüchtig wie möglich. Einige Minuten später hüllte er sich in ausgesprochen edlen Rauch und ein Wohlwollen, gegen das er schon beinahe ankämpfen musste. Er lehnte sich jetzt auch zum ersten Mal bequem zurück, gewissermaßen aus Respekt vor der Zigarre, und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
     

21.
     
    »Was wissen Sie von der indischen Rebellion, Sir?«, fragte Ruhiman.
    Gowers versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was vor neun Jahren die Zeitungen von St. Louis und New Orleans über die große Meuterei der Sepoys geschrieben hatten. »Wenig mehr, als dass sie niedergeschlagen wurde, fürchte ich. Tut mir leid.«
    »In der Folge dieser Niederschlagung wurde König Abu Zafar Bahadur Sha, der letzte Mogul, seines Thrones entsetzt und samt seiner Familie nach Rangoon verbannt, Mr. Gowers. Seither ist dieser Palast gewissermaßen das letzte Territorium des freien Indien.«
    Bitte, lass es nicht irgendeinen Unabhängigkeitsquatsch sein! Mitsamt einer Rauchwolke sandte Gowers so etwas wie ein Stoßgebet zum Himmel und zu einem Gott, an den er nicht glaubte.
    »Der Kaiser ist kurz darauf in Rangoon gestorben …« Ruhiman machte eine Pause, die der Investigator zunächst nur für pietätvoll hielt, dann aber doch als bedeutsam erkannte: »Und auch sein Sohn und Erbe Mirza Jahwan Baht ist kurz darauf gestorben. Ebenso dessen jüngerer Bruder Mirza Sha Abbas.«
    Gowers begann zu ahnen, wozu seine Dienste benötigt wurden. Es gehörte zu seiner besonderen Art der Konzentration, dass er daraufhin seinen Blick im Zimmer umherschweifen ließ, während Abdur Ruhiman damit fortfuhr, dass Bahadur Sha alt, seine Söhne jedoch junge Männer gewesen waren, Mitte zwanzig. In diesem Moment blitzte hinter einem der großen Fächer, die den einzigen Wandschmuck des ansonsten eher kargen Raumes darstellten, etwas auf, das ein vom Licht getroffener Edelstein oder eine dunkle Pupille sein konnte. Gowers überprüfte diese Beobachtung möglichst unauffällig.
    »Wenn all das in Rangoon geschehen ist, weiß ich nicht, wie ich Ihnen in Delhi nützlich werden kann, Mr. Ruhiman.« Bei diesen Worten sah er einen zweiten kurzen Schimmer, und der Abstand zum ersten erfüllte ein uraltes Schema: Augen waren auf ihn gerichtet!
    »Nun«, erwiderte der Beamte, »als die Verbannten im Oktober 1858 Alahabad erreichten, wurde vom britischen Generalgouverneur und neu ernannten Vizekönig einigen Personen freigestellt, nach Delhi zurückzukehren. Diese Möglichkeit nahmen die Königin sowie mehrere Frauen des Moguls und seiner Söhne wahr.«
    Gowers nickte bedächtig, hob dann aber plötzlich den Kopf und zwinkerte dem Fächer zu, was Ruhiman deutlich

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