Das blaue Siegel
irritierte. Er zeigte jedoch sonst keine Reaktion, woraus Gowers schloss, dass der Beamte nichts von der Beobachtung wusste, unter der ihr Gespräch stand. Die Augen verschwanden sofort.
»Unter den Rückkehrern befand sich auch ein Enkel des Moguls, der damals erst wenige Monate alte Prinz Mirza Innuzzar Baht«, fuhr Ruhiman fort. »Dessen Anwesenheit in Delhi war nur wenigen Eingeweihten bekannt, Mr. Gowers, denn sie war … sozusagen illegal. Die Regierung Ihrer Majestät hatte alle Erben der Moguldynastie nach Rangoon verbannt.«
»Und dort sind sie alle gestorben«, ergänzte Gowers.
»Richtig«, erwiderte Ruhiman und schien zu überlegen, wie er fortfahren sollte. »Und nun …«
»… ist auch Mirza Innuzzar Baht tot?«, fragte der Investigator.
Ruhiman nickte, und zum ersten Mal schien der kühle Beamte bewegt. »Ein Mordanschlag, hier im Palast. Ein acht Jahre alter Junge, Mr. Gowers. Wer bringt einen achtjährigen Jungen um?!«
»Gibt es noch andere … Prätendenten, Sir?«, fragte Gowers.
»Nein«, antwortete Ruhiman trocken. »Fünf Jahrhunderte Mogulherrschaft in Indien waren an diesem Tag beendet, Mr. Gowers.«
»Wie hat man ihn damals hergebracht, ich meine, bei dieser Rückkehr nach Delhi? Wurde er, wie soll ich sagen: geschmuggelt?«
»Soweit ich erfahren habe, wurde der Prinz mit dem Säugling einer Dienerin vertauscht …«
In diesem Augenblick öffnete sich ohne Vorwarnung die hintere Tür von Ruhimans Büro, und Gowers sah zum ersten Mal ein lebendiges Stück von jenem Märchenindien, das er aus Büchern und Bibliotheken zu kennen glaubte – eine gut sechs Fuß große verschleierte Frau, die einen verzierten Dolch an der rechten und ein Krummschwert an der linken Seite trug. Mit allen Anzeichen des noch nie Dagewesenen übersetzte Abdur Ruhiman den leise, aber nachdrücklich vorgetragenen Befehl der Schwertträgerin.
»Sie … Sie sind zu einer Audienz befohlen, Mr. Gowers. Jemand will Sie sehen …!«
… hat mich gesehen, dachte der Investigator.
22.
Die Augenbinde belustigte ihn, wie überhaupt alles an dieser reichlich improvisierten »Führung«; insbesondere die Reitgerte, deren Ende er in der Hand hielt, während seine verschleierte Führerin ihn leicht daran vorwärtszog. Das Ganze war ein mehrminütiges Problem gewesen, das den eindrucksvollen Auftritt der Schwertträgerin beinahe lächerlich gemacht hatte.
Seine Augen mussten verbunden sein, damit der Weg durch die Zenana , die Frauengemächer, geheim blieb. Einerseits musste die Dame ihn also führen, andererseits war es ihr als gläubiger Muslima natürlich nicht möglich, ihn, den Nasrany , den Ungläubigen, zu berühren oder auch nur seine Hand zu nehmen. Abdur Ruhiman, dem trotz seiner soliden Ausbildung in englischen Eliteinternaten und Colleges keine Lösung eingefallen war, hatte schließlich einen der Wachoffiziere gerufen, und der, von dem heiklen Problem in Kenntnis gesetzt, hatte schüchtern seine Reitgerte angeboten.
Qila-i-Mubarak, das Rote Fort von Delhi, erbaut von Sha Jahan, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Hauptstadt der Moguln von Agra nach Delhi verlegt hatte, war keine Festung, keine Anlage zur Verteidigung, sondern mit seinen fünf Meter hohen Mauern gewissermaßen der Rahmen für einen ganzen Komplex königlicher Paläste. Das Areal war riesig; eine Stadt in der Stadt, in der es außer den Palästen und unzähligen Bauten für eine Heerschar von Dienern einst auch Gärten und künstliche Wasserläufe gegeben hatte; eine abgeschlossene Welt von Anmut und Schönheit, die mit ihrer filigranen Eleganz, den geschwungenen Linien, tiefen Schatten und fließenden Wassern einen direkten Kontrast zur unwirtlichen, trockenen Ebene von Delhi bildete. An einem seiner Paläste hatte Sha Jahan eine später bis nach Europa berühmte Inschrift anbringen lassen: Gibt es auf Erden ein Paradies – ist es dies! ist es dies!
Das Echo dieser stolzen Worte war lange verklungen. Seit dem erfolglosen Aufstand der Sepoys war das Rote Fort nahezu menschenleer und dem Verfall preisgegeben. Gowers roch es: Fäulnis und Schimmel, als ginge es durch lange nicht mehr benutzte Keller. Hier und da sogar Moos, vermoderndes Holz in kleinen, engen Höfen, die keine Sonne, kein Wind erreichte, um die Feuchtigkeit lange vergangener Regenzeiten aufzutrocknen. Wo er dagegen die Sonne auf seinem Gesicht, auf seinen Händen fühlte, kam ihm der Boden unter seinen Füßen morsch und uneben vor; bröckelnder Putz,
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