Das blaue Siegel
das Hin-und her-Huschen eines Wesens, das im Dunkel seiner ausweglosen Falle die Annäherung der Jäger erwarten muss. An der linken Wand bemerkte er jetzt eine Leiter, einen kleinen Stapel in Pech getauchter Fackeln und verschiedene eiserne und hölzerne Geräte, deren Verwendungszweck er sich nicht vorstellen mochte. Rechts befand sich die bis dahin größte Öffnung im Boden, und darin, drei Meter tief, ein schmutziger nackter Körper, der, das Gesicht am Boden, so dicht an die Wand gekauert war, dass Gowers ihn erst auf den zweiten Blick als weiblich erkannte.
»Keine Angst, bitte«, sagte er leise und merkte dabei sofort, wie widersinnig seine Worte an diesem Ort klangen. Er entzündete eine der Fackeln, was die Unruhe der Gefangenen zur Panik steigerte. Sie weinte, stammelte Worte, die er nicht verstand, und kroch, die Arme dicht an den Körper gepresst, noch weiter an die schmierige Kerkerwand. Gowers begriff es instinktiv, konnte es aber nicht verhindern: Licht war für sie gleichbedeutend mit Schmerz.
»Es geschieht dir nichts«, versuchte er noch einmal, sie zu beruhigen, und wünschte, er hätte Mukhopadhyaya mitgenommen. Dann ließ er die Leiter hinunter und stieg in das Loch hinab. Die Frau heulte dabei so laut auf, dass er sich fragte, ob jemand es hören würde. Aber sofort sagte er sich auch, dass die Bewohner dieser wunderbaren Paläste sich sicher nicht durch die Schreie aus ihren Kerkern im Schlaf stören ließen. Eine ganze Weile wartete er am Fuß der Leiter, bis der Gefangenen klar wurde, dass nicht geschehen würde, was offenbar schon mehrfach geschehen war. Sie drehte den Kopf und starrte Gowers aus weit aufgerissenen Augen an. Der verfluchte sich, weil er keine Wasserflasche mitgenommen hatte. Dann nahm er sein Taschentuch heraus, feuchtete es mit Speichel an und säuberte behutsam das von Blut, Schmutz und Tränen entstellte Gesicht der etwa vierzigjährigen Gefangenen.
Diese fast zärtliche Berührung flößte der Frau anscheinend Vertrauen ein, ihre verkrampften Muskeln lockerten sich, sie drehte sich um, und Gowers sah, warum sie so viel Angst gehabt hatte. Beide Hände und all ihre Finger waren systematisch gebrochen worden, und wo die Fingernägel gewesen waren, sah er nur noch rohes Fleisch. Hätte er in diesem Moment noch einmal mit dem Schwert in der Hand über der Königin von Delhi gestanden, wäre womöglich seine ganze Ermittlung zu Ende gewesen.
»Verstehst du, was ich sage?«, fragte Gowers stattdessen in verschiedenen Variationen. Die Frau schüttelte den Kopf. »Belait?«, fragte sie schließlich zurück.
»Ja«, antwortete der Investigator, dem nach feinen Unterscheidungen nicht zumute war, und versuchte, ihr Hoffnung zu machen. »Morgen bist du frei.« Er beschrieb einen Bogen in der Luft, den man mit viel gutem Willen für einen Sonnenumlauf oder eine Erdumdrehung halten konnte. Aber die Gefangene verstand offenbar doch genug Englisch, um einfache Sätze zu begreifen.
»Morgen?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Morgen!«, bestätigte Gowers und zeigte auf sie. »Frei.« Er hoffte, dass sie auch das verstand, denn er wusste nicht, wie er es darstellen könnte. »Wie heißt du?«, fragte er weiter, und nach einer kurzen Pause: »Name?«
»Niazoo«, flüsterte sie.
»Aus Delhi?« Gowers zeigte instinktiv auf den schmutzigen Boden, aber Niazoo schüttelte den Kopf. »Oudh«, sagte sie.
40.
Das Licht des Wachpostens hatte sich einmal genähert, vielleicht wegen des kurzen Tumults auf dem Hof, war aber immer noch mindestens zweihundert Schritte weit weg und entfernte sich bald wieder weiter. Der Anwalt spürte, wie sein Herzschlag aus dem Hals wieder in den Brustkorb zurücksank, und wurde allmählich ruhiger. Das dauerte ein, zwei Stunden an.
In der dritten Stunde stand er vorsichtig auf, um den Blutkreislauf in seinen Beinen wieder in die vorgesehene Bewegung zu bringen, in der vierten begann er, nervös auf und ab zu gehen. Er sah, dass die Sterne ihre Position schon merklich verschoben hatten. Bald würde es hell werden, schon glaubte er, eine Art Horizontlinie zu erkennen – und der Amerikaner war immer noch nicht zurück. Was, wenn er tot war? Oder gefangen? Mukhopadhyaya kauerte sich schließlich wieder auf der Mauer zusammen, weil er Angst bekam, dass seine Gestalt einen dürren Schatten auf den heller werdenden Himmel werfen könnte. Er begann, in unregelmäßigen Abständen den Kopf zu schütteln. Wie zum Teufel sollte ihn all das nach Südafrika
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