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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Investigator auf, die weder Rousseau noch Chateaubriand gelesen hatten. Das anthropologische Interesse war indes wechselseitig, und so wurde bald nicht mehr nur gehandelt, sondern auch in Zeichensprache charmiert, wurden Bärte gestreichelt und Muskeln befühlt. Die Frauen zeigten mit besonderem Stolz ihre kräftigen, gesunden Zähne – ein Bereich, in dem sie den Pfeife rauchenden, Konservenfleisch essenden Europäern eindeutig überlegen waren.
    John Gowers wurde offenbar für besonders hübsch gehalten. Sein bartloses Gesicht und sein langer Zopf waren immer wieder Gegenstand fingerfertiger Bewunderung. War er ein Eskimo? Sein schwarzes Haar sprach dafür, aber seine Augen sprachen dagegen. Seltsame Augen, deren Farbe je nach Lichteinfall zwischen Grau, Blau und einem dunklen Meerblau wechselte. Solche Augen hatten sie noch nie gesehen. Insbesondere eine Gruppe von drei Frauen folgte ihm auf Schritt und Tritt, was ihm nur deshalb nicht restlos gefiel, weil er keine Ahnung hatte, worüber sie sprachen. Immerhin musste es etwas Freundliches sein, denn sie lächelten und lachten in einem fort. Schließlich gab eine von ihnen, sie mochte ungefähr sechzehn sein, den Säugling in ihrem Arm an ihre älteren Kameradinnen weiter, nahm Johns Hand und ließ sie nicht wieder los. Er wusste nicht, wohin das führen sollte, aber sie zog ihn zu einer größeren Gruppe Männer, die im Kreis auf dem Boden saßen und in der sich auch der Übersetzer befand. Der Junge wandte sich deshalb an Miertsching, auch wenn er seine Abneigung gegen den Mann dazu niederkämpfen musste.
    Der Missionar war gerade dabei, den um ihn versammelten Eskimos zu erklären, dass ein großer, guter Geist, für den nichts unmöglich sei, über der Sonne und den Sternen wohne. Mitten in diese Ausführungen platzte John.
    »Entschuldigung, Sir. Was sagt diese Frau?«
    Miertsching hörte dem Mädchen aufmerksam zu, und John registrierte, dass ihr Geplapper den im Kreis sitzenden Eskimos ein wohlwollendes Schmunzeln entlockte und einer von ihnen ihm mit den Worten »Takka! Takka unna! « 4 zunickte.
    »Nun, Sie … Sie haben eine Eroberung gemacht, Matrose Gowers«, erklärte Miertsching verlegen.
    »Aber was sagt sie?«
    »Sie lädt Sie ein, in ihr Zelt zu kommen.« Der Übersetzer lief über seinem Bart rot an, und John verstand.
    »Stimmt es, dass das Teil ihrer Gastfreundschaft ist, Sir?«, fragte er lächelnd.
    »Ich würde das nicht ausprobieren, Matrose Gowers«, antwortete der Missionar streng.
    »Nun, Sir«, Johns Lächeln wurde ironisch, »Sie sind ja auch nicht eingeladen!«
    In diesem Moment wurde Miertschings Aufmerksamkeit wieder von dem Mann abgelenkt, der so beiläufig »Takka unna!« gesagt, dabei aber offenbar mehr über Miertschings vorherige Ausführungen nachgedacht hatte. Es war der Angakok des Stammes, der jetzt ernst und würdevoll sagte, dass ein großer, guter Geist und all das schon möglich sei. Nur die Sterne seien natürlich keine Dinge, über denen sich etwas befinden könne. Über der Welt sei vielmehr ein großer dunkelblauer Kasten, das Haus der Sonne. Bei Tage, im Sommer, sei die Sonne lange nicht in ihrem Haus, sondern in der Welt; deshalb sei es auf der Erde dann hell und warm. Wenn sie aber in ihr Haus gehe, werde es dunkel, und wenn sie lange darin bliebe, Winter. Im Haus der Sonne seien viele kleine Löcher, durch die sie in dieser Zeit hindurchleuchte, und das seien die Sterne.
    Diese kosmologischen Erörterungen waren noch nicht beendet, als der Kapitän, nach einem langen Tag des Handelns, Redens, gemeinsamen Essens und zwanglosen Plauderns zum Aufbruch befahl. Die Eskimos wollten indes von einem Abschied ihrer Gäste nichts wissen, und als diese sich durch nichts abhalten ließen, ihre Boote zu besteigen, begleiteten sie noch mehr als fünfzehn Kajaks und setzten ihre Gastfreundschaft bis zum Schiff hin fort. Dort fragten sie ungläubig, wo die riesigen Bäume wüchsen, aus denen man etwas Derartiges schnitzen könne, und fuhren erst wieder zurück, als die nun schon wieder etwa sechsstündige Nacht hereinbrach.
    Die Männer des Landetrupps hatten viel zu erzählen, zu zeigen, und alle waren auf eine seltsame Art zufrieden; einfach glücklich, dass es noch andere Menschen auf der Welt gab. Über all ihren Geschichten und Gedanken fiel niemandem auf, dass John Gowers nicht an Bord war.
     

43.
     
    Kenualiks Mann war bei Nuvoksua von einem Walross ins Wasser gerissen worden und nicht wieder aufgetaucht. So etwas

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