Das blaue Siegel
daraufhin erzählte, konnte auch er sich keinen Reim machen.
Gesehen nicht, nicht selbst, erzählte der Eskimo, aber einst hätten Fremde auf einer Landzunge nicht weit von hier Hütten aus Treibholz errichtet und dort gewohnt. Alles Wild, Rentiere, Seehunde, Vögel, sogar Füchse und Bären, seien damals aus dem Land geflohen, und ihren Angakok oder Schamanen, der das gestohlene Wild von ihnen zurückverlangte, hätten die Fremden getötet.
»Kabloonas , weiße Männer?«, fragte Miertsching.
»Nein, Tujormiuts «, entgegnete Kairoluak. »Fremde. Aber sie tranken das schlechte Wasser.«
»Fragen Sie ihn,wann das gewesen ist!«, verlangte McClure.
»Als der Vater seines Vaters ein Kind war«, übersetzte der Missionar. »Das schlechte Wasser ist vielleicht Branntwein, Sir.«
»Vermutlich Indianer«, brummte der Kapitän. »Irgendein Jagdtrupp der Russen oder der Hudson Bay Company.« Nach einem letzten Blick auf den Sterbenden ging auch er hinaus, um der von Kot und Gangrän verpesteten Luft zu entgehen. Miertsching aber kniete neben dem jungen Mann nieder und fragte ihn, ob er wisse, was hinter dem Tod sei.
»Dort sind zwei Länder«, sagte Kairoluak, »ein gutes und ein schlechtes. In dem schlechten Land ist immer Nacht, und dort herrschen Hunger und Kälte und ein böser Geist. Wer dorthin geht, muss immer leiden und Angst haben.« Er hoffe aber, in das gute Land zu kommen, wo die Tage hell wären und das Wild freundlich sei. Der Missionar gab ihm eines der billigen kleinen Metallkreuze, die er bei jeder Landunternehmung mit sich führte.
»Das wird dir helfen, in das gute Land zu kommen«, sagte er.
Kairoluak musterte zuerst das Kreuz, dann den Mann. »An - gakok?« , fragte er, jetzt wieder misstrauisch.
Miertsching nickte und wollte noch vieles hinzufügen, aber in diesem Augenblick ertönte draußen der Ruf »Signal vom Schiff, Sir!«, und wenige Sekunden später: »Schiff auf Grund!«
»Alles in die Boote«, befahl McClure so laut, dass Miertsching nicht länger zu bleiben wagte und ohne ein weiteres Wort hinauseilte. Er wollte um die Erlaubnis bitten, wenigstens noch so lange bleiben zu dürfen, bis er den jungen Mann getauft hätte, aber der Kapitän schnitt ihm das Wort ab. »Sofort!« , sagte er unmissverständlich.
Kairoluak war wieder allein auf seiner langen Reise.
39.
Bisher hatte er seinen Weg in den vielen Gängen durch das hier und da einfallende Sternenlicht relativ deutlich erkannt und schließlich die gähnende Öffnung wiedergefunden, aus der am Morgen der penetrante Geruch von Qual und Kerker in seine Nase gedrungen war. Auch auf der breiten Treppe, über die er in die Dunkelheit hinabstieg, konnte er hier und da noch etwas erkennen. Aber unten, am tiefsten Punkt seiner Wanderung, musste sogar John Gowers ein Streichholz anzünden.
Er befand sich in einem langen unterirdischen Gewölbe, das ungefähr acht Meter breit war und dessen Ende er nicht erkennen konnte. Ein hohes, bis zur Decke reichendes Gitter zeigte ihm an, was er bereits vermutet hatte und nun bestätigt fand: Hier war das Verlies des Roten Forts. Aber offenbar war es lange nicht mehr benutzt worden, denn warum sonst war der schmale Durchlass des Gitters unverschlossen? Wo waren die Zellen? Das Streichholz erlosch, und er hörte ein leises Geräusch in der Dunkelheit vor sich, ein Rascheln, als ob ein kleines erschrecktes Tier sich zu verkriechen versucht.
Gowers nahm einen Kerzenstumpf aus seinem Beutel, steckte ihn auf die Schwertspitze und entzündete den Docht. Dann ging er vorsichtig weiter und entdeckte die Löcher. Sie waren etwa zwei mal zwei Meter groß, drei bis vier Meter tief und ungeheuer praktisch. Man warf die Gefangenen hinein und brauchte weiter keine Türen, keine Schlüssel, Ketten oder Gitter; die Schwerkraft allein tat die Arbeit all dieser Dinge. Wenn man einen Gefangenen brauchte, zog man ihn an einem Strick herauf, wenn man ihn nicht mehr brauchte, hörte man einfach auf, Essen hinabzuwerfen. Links und rechts von dem drei Meter breiten Steg, auf dem er ging, fand Gowers Dutzende solcher Löcher, gefüllt mit der Angst und Verzweiflung von Jahrhunderten – aber keine Gefangenen. Hier und da gab es Variationen: Löcher, die so schmal waren, dass ein Mensch gerade aufrecht darin stehen konnte. Morsche Holzplanken verrieten, dass man das selbstständige Herausklettern der so Gefolterten durch schlichtes Vernageln unterbunden hatte.
Je weiter er vorrückte, desto häufiger hörte er
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