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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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nach Norden hinauf, und er wusste, wo er war. Wo die Frauengemächer lagen. Wo die Königin schlief.
    Der Gang, in dem es heute Morgen nach Essen und Frauen gerochen und so reges Getuschel gegeben hatte, war jetzt leer, der Weg in die Bibliothek frei. Dort angekommen schloss Gowers die Tür und entzündete eine seiner mitgebrachten Kerzen, stellte sie auf den Kaminsims. In dieser schwachen Beleuchtung, die normalen Menschen kaum ausgereicht hätte, die Buchrücken voneinander zu unterscheiden, ging der Investigator an den Regalen entlang und studierte die Titel. Er suchte in erster Linie Werke über die Geschichte Britisch-Indiens und der Mogulherrschaft, verschmähte aber auch Fanny Parks Wanderings of a Pilgrim in Search of the Picturesque nicht und packte ganz zuletzt nach kurzem Überlegen auch noch Moby Dick und Vanity Fair in seinen Beutel. Dann sortierte er mit wenigen Handbewegungen die Bücher in ihren Regalen wieder so, dass die wenigen Lücken lange nicht auffallen würden. Erst als er den dumpfen kleinen Raum wieder verließ, sah er, dass er ein Problem hatte.
    Ein Lichtschimmer verriet ihm, dass in der Zenana jemand aufgewacht war und nun leise hustend den Gang entlangschlurfte, durch den er gekommen war. Gowers musste sich einen neuen Rückweg suchen, bog schnell und leise in einen Raum ab, in dem der Lichtschimmer am schwächsten war – und stand plötzlich vor einer langen Reihe von Frauen, die auf Kissen und weichen Decken auf dem mosaikverzierten Fußboden schliefen. Einige waren mehr oder weniger dicht zusammengekrochen, schliefen eingerollt wie in einem Katzennest, andere lagen mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken.
    Leises Schnarchen ertönte in der warmen Nacht. Keine der Frauen war zugedeckt, und hätte er nicht am Nachmittag mit Ishrat geschlafen, hätte ihn das durchaus reizvolle Bild der leicht bekleideten Körper und unverschleierten Gesichter wahrscheinlich länger aufgehalten. So aber durchquerte er eilig den Raum und hielt nur noch einmal kurz an, um die auf der Seite liegende und in schweren Träumen mit den Füßen scharrende Kaiserin von Indien zu betrachten. Dann verschwand er, ehe das ferne kleine Licht sich dem Raum wieder näherte.
     

37.
     
    Sita wurde im ersten Grau der Dämmerung durch einen Stoß an die Schulter geweckt. Sie lag zusammengerollt neben ihren sieben jüngeren Geschwistern, ein kleines, warmes Menschenknäuel, das sich nur langsam und widerwillig, mit leise knurrenden Lauten zu regen begann, als Sita ihrerseits die Kleineren weckte. Dabei ertönte noch ein anderes Geräusch irgendwo in dem Wirrwarr aufgetriebener kleiner Leiber, und die Kinder waren jetzt wach genug, um darüber zu kichern und alberne Fragen nach dem Übeltäter zu stellen. Ihre Mutter scheuchte sie endgültig hoch.
    Schlafverquollen mussten sie einander vor der Hütte an die Hand nehmen und stolperten, von Sita geführt, aus dem Dorf, in die Felder. Sie hielt die Hand ihres vierjährigen Bruders Anand und musste über ihn lachen, weil er die Augen noch nicht richtig aufbekam, aber seinen Mund umso weiter. Er gähnte praktisch ununterbrochen.
    Man hörte den Fluss in der Dämmerung, lange bevor man ihn sah. Man roch auch das Wasser – oder war es der dichte, feuchte Nebel, der aus dem Flussbett stieg, die Schluchten und schmalen Pfade entlangkroch, sich schwer auf die Felder legte? In einer langen, grasbewachsenen Senke, die sich nicht weit vom Dorf entfernt bis zum Fluss hinunterzog, half Sita zusammen mit ihrer Mutter zuerst den Kleineren, die das noch nicht selbst konnten, ihr Morgengeschäft zu verrichten. Die Mutter entfernte sich zu demselben Zweck ein kleines Stück, und solange passte Sita auf die Kinder auf. Drei von den Größeren waren der Mutter in den Nebel nachgelaufen.
    Sita musste jetzt selbst dringend und wollte sich schon mitten unter die Kleinen hocken, als ihre Mutter endlich zurückkam. Da lief sie doch lieber hinunter zum Fluss, wo man sich leichter waschen konnte. Es wurde allmählich heller und heller, und ein leichter Wind vom Fluss blies den Nebel vor sich her. Ganz plötzlich riss er an einer Stelle auf, und Sita sah, mitten in ihrer eigenen Verrichtung, ihren Bruder Anand keine zehn Schritte neben ihr in gleicher Stellung und Absicht am Boden hocken. Sie war inzwischen alt genug, um sofort wegzuschauen, fand aber diese Gleichzeitigkeit doch noch irgendwie lustig. Dann sah sie etwas anderes.
    Es war schwarz, es war grau. Es erhob sich sehr groß aus dem

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