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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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drückte die Investigator gegen die schwarzen Felsen, die hier hundertzwanzig Fuß hoch senkrecht aus dem Meer wuchsen. Noch hundert Meter, noch achtzig, und das Schiff würde zerdrückt werden wie ein rohes Ei. Verzweifelt krallten sie sich an den großen Schollen fest, denen sie doch eben erst entronnen waren. Sechs Eisanker wurden ausgebracht, an sechs Tauen zogen je elf Männer, Kapitän, Schiffsjunge, Missionar, Seesoldaten, wie dreimal Wahnsinnige, um das Schiff von den Felsen klarzuhalten. Sie passierten die nackte schwarze Wand in einem Abstand von weniger als fünfzig Schritten. Dann schloss sich das Eis wieder und schob sie, noch immer im Kehrwasser, wieder nordwärts.
    Von Neuem den Elementen preisgegeben, den widerlichen Geräuschen des Reißens und Zerbrechens einander verschlingender Eisfelder, waren sie jetzt am äußersten Rand körperlicher und moralischer Erschöpfung angelangt und glaubten, die Luft selbst müsste gefrieren, eine feste Masse, die sie zermalmen würde. Stumm sahen sie, wie eine neue Eiswoge sich von Norden auf das Schiff zuwälzte; dumpf, ohnmächtig erwarteten sie, darunter begraben zu werden – als mit einem Mal die Welt stillstand.
    Knatternd wie eine Salve zerrissen ihre sechs Taue, und die Scholle, die sie gerettet hatte, wurde mitsamt den Eisankern nach Süden getrieben; aber das Schiff bewegte sich nicht mehr. Auch rings um die Investigator kam alles zur Ruhe. Sie waren dem Hauptstrom entkommen – aufgrund irgendeiner unbekannten geologischen Gegebenheit des Meeresbodens, einer Spalte, einer Erhöhung, die tief unten in der Dunkelheit die entsetzliche Kraft der Strömung ablenkte. Sie wussten es nicht und wollten es nicht wissen. Miertsching nannte es natürlich ein Wunder.
    In den nächsten Tagen wurden sie noch ein wenig nach Norden getrieben, sanft, langsam, dann saßen sie endgültig fest, mitten im Eis, neun Monate lang.
     

56.
     
    Die Taube kam aus Patna. Sie hatte das schimmernde Band des Ganges hinter sich gelassen, das Hügelland des Santal überquert und auch in den unüberschaubaren Flusslabyrinthen des bengalischen Tieflands die Orientierung nicht verloren. Sie flog dem Meer entgegen, spürte, obgleich noch zweihundert Meilen davon entfernt, eine Ahnung von Salz in der Luft und nahm instinktiv die Richtung, in der diese Ahnung zur Gewissheit wurde.
    Dann sah sie es – im fetten, schlierigen Grün des riesigen Deltas: die große Steinstadt der Briten, fühlte die Hitze, von hunderttausend Dächern in den Himmel zurückgeworfen, und kreiste über den weißen Palästen der Handelshäuser und Regierungsgebäude. Sie war zu weit nach Süden geraten, flog zwei große Suchschleifen über der Stadt und folgte dann dem Hooghly wieder ein Stück nach Norden, wo die Black Town, das indische Viertel Kalkuttas, lag. Hier suchte sie, in immer kleineren, engeren Kreisen, das blaue Haus und den Schlag, in dem sie vor nun fast zwei Jahren geboren worden war.
    Vermutlich hätte der alte Charlie Mordaunt sich darüber gefreut, dass zumindest die niedere Kreatur Mordaunt House an der Farbe identifizierte, mit deren Hilfe er es erbaut hatte. Mit Indigokarmin, gewonnen aus der Indigofera tinctoria , in Schwefelsäure gelöst und mit Soda versetzt, hatte Charles Mordaunt ein Vermögen gemacht und es nur recht und billig gefunden, seinem großen, wenn auch nicht palastartigen Haus durch Anstrich und Verblendungen ebendiese Farbe zu geben. Auch die Häuser der Brahmanen, also der obersten indischen Kaste, waren oft blau gestrichen; einerseits um sich vom gemeineren Volk, das sich so etwas nicht leisten konnte, optisch abzusetzen, andererseits weil man glaubte, dass die blaue Farbe die Mücken abschreckt.
    Eine Zeit lang hatte Charles Mordaunt deshalb gehofft, dass die Bezeichnung Blaues Haus sich durchsetzen und in der britischen Upperclass Kalkuttas ein Begriff werden würde, aber dazu kam er von zu weit unten, hatte zu wüst gelebt und war sein Aufstieg zu mysteriös.
    Handelsagent sei er gewesen, hieß es, die Flüsse hinauf bis nach Kanpur, Agra, Farrackabad. Nur ein besserer Einkäufer, hieß es, der sich außerdem zu sehr mit den Eingeborenen einließ, mit den käuflichen Frauen und Kindern zumal. Eben ein weißer Nigger – der aber eines fernen Tages vor dreißig Jahren plötzlich die Aktienmehrheit der Gesellschaft erwarb, bei der er angestellt war. Niemand wusste, woher das Kapital dafür stammte, und eine gewisse Zeit raunte man von mörderischen Skandalen, geheimen

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