Das blaue Siegel
Langsam, stetig glitten seine Gedanken noch einmal über Ishrats Körper; mit Ausnahme des Reitunfalls von Mirza Sha Abbas und dem Tod des kleinen Schauspielerprinzen, von dem niemand wusste, ob er erwürgt, erschlagen oder vergiftet worden war, gab es wenig unmittelbare Gewalt in dieser Mordserie. Umso mehr mysteriöse Krankheiten. Was hieß das? Was sagte das über den, über die Mörder und über ihre Auftraggeber?
Gowers siedelte die böse Absicht versuchsweise in Ishrats Bauchnabel an. Von dort aus musste sie Delhi, Rangoon und Lakhnau gleichermaßen erreichen können. Der Mörder von Delhi war nach übereinstimmenden Aussagen ein Paria, ein Unberührbarer gewesen; ein Balahi, Chamar, Mahar, Kori, Koli, Mehtar, Dom oder Mang – das konnte in der Eile und Aufregung niemand aus seiner Kleidung schließen. Wie kam ein Paria an Prinzen und Prinzessinnen heran? War er über Lakhnau und Rangoon nach Delhi gereist? Gowers verglich nach den möglichen Todesarten nun die Daten der Morde und kam immer wieder an denselben Punkt: Wer hatte gewusst, dass der Prinz noch lebte und dass die Dienerin ihn aufsuchen sollte?
Niazoo hatte selbst unter der Folter behauptet, keiner Menschenseele von ihrer Reise erzählt zu haben. Wer wusste dennoch davon? Was hatte Niazoo zu ihrer Reise veranlasst? Langsam kreisten Gowers’Blicke auf Ishrats Leib, suchten die Wege zwischen der bösen Absicht und ihrer Verwirklichung. Einen zumindest kannte er: den Weg Niazoos nach Delhi.
»Lakhnau«, sagte er laut, als auch seine zweite Pfeife erloschen war.
54.
Fünf Tage lang war alles neu, waren sie Entdecker und zeichneten die Küstenlinien, die sie sahen, in den weißen Fleck ein, der auf den Karten der Admiralität zwischen Kap Bathurst im Süden und Melville Island im Norden klaffte. Sie hatten das Vorgebirge, das McClure »Nelson’s Head« nannte, östlich passiert und dahinter ein weiteres Land entdeckt; auch eine Bucht oder Straße zwischen den neuen Ländern. Die Berge auf beiden Seiten waren bis zu achthundert Fuß hoch, die Bucht oder Straße dazwischen mal dreißig, mal fünfzehn Meilen breit. Und noch immer segelten sie, unter Schwärmen von Seevögeln, die südwärts zogen, segelten sie aus eigener Kraft nach Norden.
Niemand dachte jetzt mehr an Franklin und seine Männer. Nur noch eine Frage beherrschte die Investigator : Bucht oder Straße? Davon hing die Lösung des großen Rätsels ab, das seit vier Jahrhunderten Männer hinausgetrieben hatte in die ungeheure Einöde aus Wasser, Eis, Schlamm- und Felseninseln. Niemand glaubte mehr ernsthaft an einen wirtschaftlich nutzbaren Wasserweg zwischen Europa und China, keine stolze Handelsflotte von Drei- oder Vierdeckern würde je diese tückischen kalten Meere befahren.
Es ging nur noch darum zu wissen, was hinter dem Horizont lag, hinter dieser Landzunge, hinter jenem Berg, den Inseln im Westen. Diese Frage war viel älter. Schon der erste Wilde auf dem ersten Einbaum hatte sie gestellt, als er sich den unbekannten Fluss hinabtreiben ließ, der in vielen, vielen tausend Jahren die Themse genannt werden würde. Wie viele Namen mochte dieser Fluss vorher getragen haben?
McClure nannte das Land im Westen Baring-Land, das östliche Prinz-Albert-Land, aber das waren vorläufige Bezeichnungen. Baring-Land mochte identisch sein, konnte zusammenhängen mit der Felsenküste, die Parry vor dreiunddreißig Jahren südlich von Melville Island gesichtet und Banks-Land genannt hatte; zu Ehren der Royal Geographic Society und des großen Gefährten von Kapitän Cook. In wenigen Tagen würde alles entschieden sein; nur noch knapp sechzig Meilen trennten die Investigator von der altbekannten Barrow-Straße, dem Melville Sound im Norden, und ihr Eismeister, Stephen Court, behauptete, die Strömung unter seinen Füßen, die Auswirkungen von Ebbe und Flut seien deutliche Zeichen für eine Straße und keine Bucht.
Die Stimmung der Männer steigerte sich zu Euphorie. Sie würden die Nordwestpassage durchfahren und die zwanzigtausend Pfund gewinnen, die als Preis für diese Leistung ausgesetzt waren. Einzelne begannen schon die Lay auszurechnen, also die Summe, die das für den einzelnen Mann bedeutete.
Noch fünfzig Meilen, noch vierzig! McClure machte in seinem Tagebuch bereits Entwürfe für die dankbaren, würdigen Sätze, mit denen er der Welt seine Entdeckung mitteilen würde – als das Eis sich schloss.
In der Nacht auf den 11. September 1850 geriet die kreuzende Investigator in
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