Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
schweres Eis, und ihre lange Fahrt erstickte zwischen riesigen Treibeisfeldern. Ein starker südlicher Wind schüttelte sie, wie ein Terrier eine Ratte beutelt. Mit Eisankern und jedem anderen Trick, den sie kannten, versuchten sie noch einmal, sich aus den Zähnen des Winters herauszuwinden, aber als die Sonne aufging, sahen sie, dass da keine Hoffnung mehr war. Nur noch Eis. Eis im Norden, Süden, Osten und Westen. Eis, so weit man sehen konnte.
     

55.
     
    Der Tag danach war windstill und freundlich, sanft, hell. Nur die Menschen kämpften wütend. Verbissen bohrten sie, wühlten mit hölzernen, eisernen Stangen, schlugen mit blanken Äxten auf das gefrierende Meer ein, kämpften um jeden Meter offenen Wassers. Aber am Abend saßen sie trotz ihrer verzweifelten Anstrengung so fest, wie nur je sechsundsechzig Ameisen auf einem Stück Treibholz auf einem zugefrorenen See.
    Sie bewegten sich nicht mehr, sie wurden bewegt. Die vertrauten Elemente, das Wasser, der Wind, die sie so findig und erfolgreich für ihre Zwecke eingesetzt hatten, wurden ihnen fremd und taten mit ihnen, was sie wollten. Anfangs trieben sie weiter nach Norden, dann südwärts, zurück, schließlich im Kreis. Die gigantische Eisscholle, auf der das Schiff festsaß, Meilen um Meilen im Durchmesser, drehte sich so gemächlich um sich selbst, als wollte sie ihnen erst einmal von allen Seiten zeigen, wie sehr sie nun jenseits allen Handelns waren.
    Ihre Bewegungsunfähigkeit steigerte sich zu Tantalusqualen, als der Ausguck offenes Wasser im Westen meldete, nahe Baring-Land, eine breite dunkle Rinne, die sich nach Norden erstreckte, so weit die Leute mit den besten Augen sehen konnten. McClure machte einen ersten Versuch mit dem Schießpulver, wollte sich einen Weg freisprengen in das Fahrwasser, aber sie hätten ebenso gut versuchen können, durch gewachsenen Fels zu segeln. Das dauerte vierzehn Tage. Dann brach die Hölle los.
    Ein Sturm trieb das Eis in unheimlicher Geschwindigkeit nach Süden, auf zwei kleine Inseln zu, die sie vor einigen Tagen passiert und Princess Royal Islands genannt hatten. Hier stockte alles, denn die große Scholle, auf der das Schiff festsaß, war inzwischen zu dick gefroren, um die Untiefen rings um die Inseln zu passieren. Sie hörten, wie das Eis in der Tiefe über die Grundfelsen knirschte, dann staute es sich, blähte sich auf wie ein Soufflé und zerbrach schließlich in unzählige riesige Trümmer, während von Norden her immer neue Eismassen den engen Kanal hinabgepresst wurden.
    John, in der Mastspitze, blickte auf eine Welt in Schöpfungswehen: Eisschollen, die acht Meter dick und fünfzehnmal größer waren als das Schiff, wurden binnen Minuten zu bizarren Bergen zusammengeschoben, wirren, gezackten Trümmerhaufen, die übereinander herfielen, einstürzten, sich neu formierten, heranrollten wie riesige, gefrorene Wellen. Das Schiff mitten in diesem Chaos wurde ein Dutzend Mal hochgehoben, zu dieser und jener Seite geworfen, schwebte für Viertelstunden über weißen Abgründen, rutschte dann nahezu senkrecht in sie hinein, bis das Eis ringsum dreimal höher war als die Masten.
    Siebzehn Stunden lang standen die Männer auf dem Verdeck; da war nichts zu tun, diesen Kräften war nichts entgegenzusetzen, diesem Schicksal konnte man nicht entfliehen. Es gab kein Wasser, in das man die Rettungsboote hätte lassen können, gab kein festes Eis, keinen Weg wegzulaufen. Sie konnten nur dastehen und beten oder »O Scheiße! O Scheiße!« sagen, wenn sich immer wieder eine neue Eiswand hoch über ihren Köpfen wölbte.
    Das Schiff wurde in diesem gefrorenen Sturm derart zusammengepresst, dass die Fugen der Verplankung sich öffneten und das geteerte Werg herausfiel. Wer weiß, wie lange sie dem Toben noch standgehalten hätten, wenn sie nicht plötzlich, im Süden der Princess Royal Islands, ins Kehrwasser des ungeheuren Eisstroms geraten wären. Hier hatte das Landeis, das die Inseln umklammert hielt, sich unter dem wahnwitzigen Druck aus Norden von den Felsen losgerissen und offenes schwarzes Wasser zurückgelassen. Die Investigator rutschte hinein und tanzte darauf wie ein Korken, während der große Eisfluss nach Süden weiterzog und unablässig kleine, haushohe Bruchstücke in das aufgewühlte Wasser kalbte.
    Was zuerst wie die Rettung erschien, wurde rasch zu einer tödlichen Falle. So schnell es sich gebildet hatte, wollte das offene Wasser sich anscheinend auch wieder schließen, und eine gezackte Eiswand

Weitere Kostenlose Bücher