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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Schätzen und einer indischen Prinzessin, die er geheiratet hätte. Tatsächlich hatte nie jemand diese Frau gesehen, aber geben musste es sie; verborgen in dem blauen Haus, das Charles Mordaunt sich – mitten unter den Hindus – gebaut hatte. Denn seltsame Wohltaten für die einheimische Bevölkerung und sogar für die Kastenlosen gingen von diesem Haus aus.
    Jemand befreite die armen Familien von ihren zahllosen Kindern, Mädchen wie Jungen, die dann einmal im Jahr wohlgenährt und sauber gekleidet an den Prozessionen teilnahmen. Offenbar wurden sie erzogen; aber sie kehrten nie mehr zu ihren Familien zurück, sondern wurden, erwachsen geworden, überall im Land in gute Stellungen gegeben, hieß es. Charles Mordaunt, dessen einfache Herkunft und niedrige Gesinnung über ihm hingen wie eine dunkle Wolke, konnte dieser Wohltäter kaum sein. Zu schamlos, zu exzessiv war das, was man über sein Privatleben munkelte.
    Als er, schon in fortgeschrittenem Alter, endlich einsah, dass seine Landsleute ihm nie die Anerkennung gewähren würden, die er zu verdienen glaubte, hatte er seine Geschäfte einem Banian , einer Art indischem Hofmeister, übergeben und nur noch das Leben, den Alkohol und die sehr jungen Mädchen genossen, die seine Frau ihm zuführte. Zwölf-, Dreizehnjährige, die ihn zu dritt oder viert bedienten. Noch ein paar Jahre saugten, bissen, kratzten und peitschten sie den Rest seines wüsten Lebens aus ihm heraus. Dann, während der großen Rebellion, hatte Charlie Mordaunt eines Morgens mit vom Schlagfluss indigoblau gefärbtem Gesicht tot zwischen seinen kleinen Bettgenossinnen gelegen, und seine Witwe war nun die alleinige Herrin in dem geheimnisvollen, geächteten blauen Haus.
    Die Nachrichten, die die Taube brachte, bestätigten nur die Botschaften, die schon früher am Tage eingelaufen waren. Von fünf Tauben waren diesmal vier durchgekommen, und wer immer die letzte finden würde, könnte doch mit dem in einem Code abgefassten Schreiben nichts anfangen: Sie hatten einen Detektiv engagiert, einen Amerikaner. Er hatte die Königin gesprochen und Verhöre durchgeführt. Er wollte nach Lakhnau gehen.
    Noch am selben Abend flogen fünf Tauben vom blauen Haus nach Norden und trugen die Flüsse hinauf die Botschaft, den Amerikaner zu töten, wo immer man ihn finden würde.
     

57.
     
    Es musste ein Mensch sein. Es musste mehr als ein Mensch sein. In vier Jahren waren nun über dreihundert Kinder aus den Dörfern des Uttar Pradesh verschwunden; verschwunden geblieben oder nur als zerrissene Leichen wieder aufgetaucht. Tiere taten so etwas nicht. Und nun hatte man zum ersten Mal den Beweis dafür, dass der Tod an zwei Stellen gleichzeitig zuschlagen konnte. Zwei Kinder, in der gleichen Nacht, am gleichen dämmrigen Morgen, in zwei Dörfern, die fast sechzig Meilen weit auseinanderlagen.
    Man sprach wieder viel von dem fliegenden Dämon, aber flüsternd nun auch von einer furchtbaren neuen Sekte, Thugs , in Wolfspelze gehüllte Mörder mit eisernen Zangen, die den Fangzähnen der Wölfe nachgebildet waren. Für eine Sekte sprach, dass die Opfer stets Kinder waren; viele Sekten der alten Zeit brauchten Kinder für ihre Rituale, manchmal auch nur Teile von Kindern, um Kraft aus ihrer Unschuld, ihrem Leid, ihren Schmerzen zu ziehen. Für menschliche Täter sprach auch, dass die Opfer nur selten geschrien hatten, wenn sie überfallen wurden. Und nun eben der Beweis, dass es zwei oder mehrere waren. Wie hätten Tiere, gleich ob Wölfe, Tiger oder fliegende Schweine, ihre Taten so abstimmen können?
    Sofort kam das Gerücht auf, dass die wenigen unterbezahlten Polizisten, die im Uttar Pradesh patrouillierten, angewiesen worden seien, nach verdächtigen Individuen Ausschau zu halten. Das konnten die Bauern, die Dörfler, verängstigten Mütter natürlich viel besser. Verdächtig waren vor allem Fremde, Wanderer, reisende Händler, Schauspieler, Bettler.
    Auf dem Handkarren eines Fremden aus dem Rajputan, der mit Vogelklauen, Wunderkräutern, Amuletten und allerlei anderem faulen Zauber handelte, wurde ein Wolfspelz gesehen, und dummerweise machte der Mann sich nicht schnell genug davon, sondern gab den Menschen Gelegenheit, eine ganze Nacht lang über ihn zu reden. In diesem Dorf und seiner Umgebung waren in den letzten Wochen acht Kinder getötet worden, und alle Fakten zusammengenommen reichten aus, den Fremden zur Rede zu stellen.
    Zuerst gab er komische, schließlich freche Antworten, denn er war ein junger

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