Das blaue Siegel
Zuträger halten konnte, deren Berichte sich – da sie einander nicht kannten – gegenseitig ergänzten und korrigierten. Aber natürlich war ihm klar, dass auch er selbst und seine Vorgesetzten unter der Beobachtung diverser Spitzel des Königshauses und anderer Adelsfamilien standen; das machte das politische Spiel und seine Züge letztlich doch jämmerlich kompliziert.
Der Amerikaner war sein Joker – jedenfalls hatte er das zunächst geglaubt. Immerhin kam er von außen, gehörte keiner der einander belauernden Parteien an, und was er herausfand oder was man ihn herausfinden ließ, glaubte Ruhiman leicht in der Hand zu behalten. Dann jedoch hatte sich etwas Unerwartetes herausgestellt: Der Amerikaner war schlau! Von einem Mann in seiner Lage und mit seinem abgerissenen Auftreten war das nicht zu erwarten gewesen, und die Sicherheit, mit der Gowers aus Sachverhalten, auf die Ruhiman nicht viel gegeben hätte, weitreichende und richtige Schlussfolgerungen zog, war beinahe schon beängstigend.
Er hatte sich zudem als ausgesprochen unabhängig erwiesen, ermittelte auf eigene Faust, ohne Absprachen und hatte offenbar unbemerkt von allen Parteien und auf eine Weise, die Ruhiman schleierhaft blieb, die gefangene Dienerin gesprochen. Wenn Gowers nun noch nach Lakhnau ginge, wäre er vollends außerhalb seiner Kontrolle, und der Beamte überlegte lange, wie man den Investigator und seine Schritte zumindest im Auge behalten könnte. Die Idee, auf die er schließlich kam, war nicht neu, ja sogar ein wenig unbefriedigend, aber doch zumindest pragmatisch: Ruhiman stellte dem Amerikaner weitreichende Vollmachten aus.
Auf diese Weise erhielt Gowers das Kommando über eine militärische Bedeckung, die ihn auf der Reise schützen, aber auch bewachen würde; er konnte im Namen der Königin und der Kolonialregierung Transportmittel requirieren und die Dienste jeder Polizeistation und jeder anderen administrativen Einrichtung in Anspruch nehmen. Gleichzeitig sandte Ruhiman allerdings an all diese Stellen die Depesche, ihn stante pede über die Wahrnehmung dieser Vorrechte zu informieren. So hoffte er, den Fortgang der Ermittlungen stets im Auge zu behalten, und war nicht wenig enttäuscht, als ihm der Investigator eröffnete, die Reise nach Lakhnau zunächst auf der Djumna, also auf dem Wasserweg anzutreten.
Das war schlecht, denn wie sollte man ihn dort verfolgen, wie unbemerkt Nachrichten übermitteln? Nein, Abdur Ruhiman musste sich damit abfinden, den Amerikaner wenigstens zeitweise von der Leine zu lassen, und ganz auf die Wachsamkeit der ihn begleitenden Sepoys vertrauen, von denen allerdings nicht hundertprozentig feststand, wem ihre Loyalität eigentlich galt. Weiß Gott, der Kolonialismus war ein mühsames, furchtbar kompliziertes Geschäft.
Und erst spät wurde Ruhiman klar, dass er mit Ausstellung der schriftlichen Vollmachten sein Doppelspiel zwar nicht direkt offenbart, aber für einen begabten Ermittler zumindest in Augenhöhe platziert hatte.
59.
Es blieb viel zu tun. Die Schiffsgesetze wurden verlesen am ersten Morgen, nachdem das Eis stillstand, und mit entblößten Köpfen im schneidend kalten Wind wurde die vollzählig versammelte Mannschaft daran erinnert, dass die Investigator , dieser winzige dunkle Punkt Wärme und Leben inmitten des endlosen weißen Schweigens, immer noch England war, mit all seinen Hierarchien und Mechanismen eines geregelten Gemeinwesens. Drinnen: sie, England, die Zivilisation. Draußen: die Wildnis. Danach wurden die Matrosen bestraft, die in der höchsten Not ihre Posten verlassen, die Spirituskammer aufgebrochen und sich betrunken hatten, um ihrer Todesangst zu entkommen. Man beließ es jedoch bei je einem halben Dutzend Schläge, weil die Kälte allein für die halb nackt angetretenen Delinquenten schon Strafe genug war.
Segel wurden als Schutzdach über dem Deck ausgespannt wie ein großes Zelt, ein drei Meter hoher Wall aus Eisblöcken und Schnee rund um das Schiff aufgeworfen, das Eis ringsum von den gröbsten Unebenheiten befreit, sodass sich die Investigator wie ein römisches Kastell auf einer gefrorenen Ebene erhob. Improvisierte Schornsteine aus Segeltuch entlüfteten den Schiffsraum, und der feuchte Dunst, der aus ihnen aufstieg, drehte sich wahrhaftig wie Rauch in der klaren kalten Luft. Jeden Morgen wurden diese Schornsteine abgenommen und mit Eispicken von den gefrorenen Ausdünstungen befreit, die bis zu zwei Zoll dick wurden.
Selbst die winzige
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