Das blaue Siegel
Öffnung für das hoffentlich nie benötigte Löschwasser offen zu halten erwies sich als schwierig. Ein Problem wurde es deshalb, die Abtritteimer zu leeren, denn was bisher zuverlässig im Meer verschwunden war, musste nun per Hand vom Schiff und an eine bestimmte Stelle auf dem Eis geschafft werden, für die bald viele volkstümliche Bezeichnungen im Umlauf waren: Mount Poop , Hills of Hell , The Sailors Rest . Glücklicherweise gefroren die Exkremente schneller, als sie stinken konnten, aber was sechsundsechzig Menschen an Dreck produzierten, nahm in neun Wintermonaten immer staunenswertere Dimensionen an. Dennoch schrieb niemand darüber.
Sie hatten noch viel über das Leben im Eis zu lernen, und jedes Mal, wenn sie lernten, gerieten sie in Lebensgefahr. So machten sie eine erste kurze Expedition, um Prinz-Albert-Land, fünf Meilen östlich, für die Krone in Besitz zu nehmen, den Weg über das Eis zu erkunden und nach Spuren von Tieren zu suchen, die man jagen konnte. Ein Ausflug, eine Landpartie, dachten sie voller Freude, sich nach zehnmonatiger Reise ordentlich die Beine zu vertreten. Sie fanden den Weg ans Land, sie pflanzten den Union Jack auf, sie bestiegen einen vierhundert Meter hohen Berg und blickten stolz über das trostlose Land, das sie entdeckt hatten. Gefrorene Butterbrote waren ihr Festmahl, dann rieben sie sich die Hände, die frischen roten Gesichter und fanden, es sei an der Zeit, zum Schiff zurückzukehren.
Ihr Spaziergang endete an einem achtzig Meter breiten Kanal schwarzen Wassers, den die einsetzende Flut geöffnet hatte; und einige erinnerten sich jetzt an ein weit entferntes Geräusch, wie ein Schuss, wie ein Peitschenknall, das sie am frühen Nachmittag gehört hatten. Das war das plötzliche Abreißen des Eises vom Land gewesen, sie wussten es nun. Ohne Boote, ohne Zelte, Proviant, Decken. Sie sahen ihr Schiff ganz deutlich durch ihre Ferngläser, sie feuerten Salve um Salve, bis sie ihr Pulver verschossen hatten, aber der Nordwind verschluckte den Schall. Man bemerkte sie nicht.
Erst gegen Abend, den Tod schon vor Augen, sahen sie, wie Suchmannschaften mit Fackeln das Schiff in drei Richtungen verließen. Nur durch Zufall kam eine davon ihnen so nahe, dass ihre Schreie – ein grausiger, einstimmiger Chor – endlich gehört wurden und eines der aufblasbaren Halkett-Boote, vor wenigen Jahren von einem Ingenieur der Royal Navy erfunden, sie über die grausige Spalte setzte.
60.
Ungeachtet dieser Erfahrungen geriet McClure auch auf seiner zweiten Expedition in Lebensgefahr. Diesmal war alles besser vorbereitet, aber diesmal hing auch mehr davon ab: Am 21. Oktober 1850 brach ein Schlitten mit sieben Männern unter dem Kommando des Kapitäns nach Norden auf, um endlich mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie das Wasser, in dem sie eingefroren lagen, enden würde. Fünf Tage später wussten sie, dass sie am Ziel waren, dass sie gefunden hatten, wonach Europa seit vier Jahrhunderten suchte: Die Prince-of-Wales-Straße, die sie entdeckt hatten, war die Nordwestpassage!
Bei herrlichem Wetter erstieg McClure einen zweihundert Meter hohen Hügel, den er Russell Point nannte, sah durch sein Fernrohr und bestimmte dann seine Position. Rechts und folglich im Osten verlor sich die Küste von Prince-Albert-Land im Dunst der Entfernung, links zog sich Baring-Land nach Nordwesten. Unter ihm die Wasserstraße, in der sein Schiff gefangen lag, und voraus, endlos, bis zum Horizont nur noch Meereis. Da wusste er und bestätigten seine Messungen, dass er auf dem Vorgebirge stand, das Parry vor mehr als dreißig Jahren im Süden gesehen, aber nicht betreten hatte; die Kette der arktischen Entdeckungen war geschlossen. Die bloße Tatsache, dass einige seiner Landsleute damals diesen Hügel durch ihre Fernrohre erblickt hatten, vermittelte ihm das irrationale Gefühl, zu Hause angekommen zu sein, und der harte irische Seemann ließ jeden seiner Männer einzeln an seine Stelle treten, um die weiße, in der Sonne blinkende Krone des Nordens wenigstens für einen Moment in Augenschein zu nehmen.
Sie errichteten einen Steinhaufen und hinterließen dort Nachrichten über ihre Fahrt bis zu diesem Punkt. Blieb der Rückweg zum Schiff, wie gehetzt vom Hochgefühl des Triumphs, drei Tage, vier Tage. Am 30. Oktober sichteten sie die Princess-Royal-Inseln, und McClure hielt das langsame Marschtempo des Schlittens nicht mehr aus. Ohne Proviant, nur mit einem Kompass, einem Gewehr und den Kleidern, die
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