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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Mann, in der Fülle seiner Kraft, und fühlte sich, weit gereist und erfahren, wie er war, den Bauern himmelhoch überlegen. Aber er war auch allein, hatte niemanden, der für ihn sprach, machte Ausflüchte, als er den Ernst seiner Lage zu begreifen begann – weit entfernt von jeder festen Stadt und ihren Sicherheiten, weit von Polizei und Behörden, ganz dem Land und seinen Bewohnern ausgeliefert.
    Der erste Stein flog, als er, angstschwitzend, anbot, ihnen seinen Karren und all seine Waren zu schenken, denn wer, der nichts zu verbergen oder zu bereuen hatte, machte ein solches Angebot? Dann beging der Mann seinen letzten, entscheidenden Fehler und versuchte davonzulaufen. Er war schnell, gewiss, aber es gab hier genug junge Burschen, die ebenso schnell waren und im Gegensatz zu ihm Weg und Steg kannten.
    Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie ihn eingefangen hatten und mit Steinwürfen durch das Dorf trieben. Dort hatten die Frauen inzwischen seinen Karren gefleddert, den Wolfspelz gefunden und unter allerlei Krempel auch eine einzelne kleine Sandale; zu klein für den Mann, gerade groß genug für einen Kinderfuß. Einzelne Stimmen sprachen noch davon, den Mann festzuhalten und die Behörden zu verständigen, aber die Mütter der getöteten Kinder schäumten bereits, zerkratzten sich Arme und Gesicht in ihrer Trauer, ihrem verzweifelten Hass. Ihr Blut, ihre Klagen gaben den Ausschlag.
    Hatte man den Mann eben noch mit Steinen beworfen, so rührte man ihn jetzt an, zerrte, riss an ihm, schlug ihn mit Fäusten. Das steigerte sich, als er am Boden lag und mit zerrissenen Kleidern nur noch um sein Leben bettelte. Denn da kamen auch die heran, die sich bisher hinten gehalten hatten, spuckten auf ihn, traten ihn, und dann trieben die Alten die Kinder weg, damit sie nicht sehen sollten, was weiter geschah. Aber die Kinder reckten die Hälse, kletterten auf schwankende Dächer und sahen es trotzdem.
    Die Frauen ließen sich nicht vertreiben. Zuerst feuerten sie die jungen Burschen nur an, dann machten sie selbst mit, rissen dem schreienden Fremden büschelweise die Haare aus, zogen mit aller Gewalt an Ohren, Fingern, Penis und Hoden. Seine Schreie vergrößerten nur ihre Wut. Es war nicht leicht, einen Menschen mit bloßen Händen zu töten. Sie versuchten, ihm die Arme abzureißen, aber selbst die kräftigsten Männer schafften es nur, sie aus den Schultergelenken zu drehen – nachdem sie die Muskeln zerschnitten hatten, die der Mann in seinem verzweifelten Kampf immer wieder anspannte.
    Zuletzt schleiften sie den hilflosen, wimmernden Körper auf und ab durch das Dorf, und endlich drehten sie ihn auf den Rücken und töteten ihn, indem sie mit aller Kraft und von allen Seiten auf seinen Bauch, seinen Brustkorb sprangen. Einige verletzten sich selbst und sich gegenseitig dabei, und das steigerte ihre Wut bis zur Raserei. Sie zertraten den Leichnam, bis er kaum noch als Mensch zu erkennen war, verbrannten die Reste auf seinem eigenen Karren und warfen die Asche, die Knochen danach in den Fluss.
    Das geschah an einem herrlichen Morgen im Mai unter freiem Himmel. Es dauerte lange, fast drei Stunden, und war doch nur einer von über einem Dutzend ähnlicher Lynchmorde, die innerhalb kürzester Zeit im ganzen Uttar Pradesh stattfanden. Raksha, die Dämonin, lächelte dazu, aber sie nahm das Opfer nicht an.
     

58.
     
    Lakhnau war keine gute Idee. Abdur Ruhiman hätte den Amerikaner lieber in Delhi behalten, schon weil seine »Ermittlungen« hier leichter zu kontrollieren waren. Aber da war nichts zu machen: Wer zahlt, bestimmt – und nominell war er noch immer ein Diener der Königin von Delhi, ja ihr offizieller Verbindungsbeamter zu den britischen Machthabern. Ruhimans eigentliche Aufgabe aber war es, Ruhe zu bewahren.
    Gewiss, ein neuer allgemeiner Aufstand war kaum zu befürchten, und man hatte die Mogulfamilie bei ihrem eigenen Volk so gründlich diskreditiert, dass auch durch das Bekanntwerden der Morde keine besondere Unruhe zu erwarten gewesen wäre. Aber seine Arbeit bestand auch darin, das Königshaus selbst respektive den hohen indischen Adel unter Beobachtung und Kontrolle zu halten, und das hieß eben manchmal: Er musste diese Leute beruhigen. Sie bei Laune halten, indem hin und wieder auch geschah, was sie wollten.
    Sie zu überwachen war nicht weiter schwer. Die Heerschar von Dienern, die sie zu ihrer mittelalterlichen Lebensführung benötigten, war so unüberschaubar, dass er sich mehrere Dutzend

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