Das blaue Siegel
erschöpft wie nach einem Liebesakt, ehe er an ihrer kalten Schönheit zugrunde ging.
Alle zwei Tage wurde das Schiff mithilfe der Öfen und glühender Kanonenkugeln, die unter Deck aufgehängt wurden, ausgetrocknet. Dennoch hing ständig ein leichter Modergeruch in sämtlichen Räumen, bei dem man nicht wusste, ob er nun von den klammen Decken, den feuchten Kleidern oder den Männern selbst ausging. Dieser Geruch verschwand nur, wenn sie abends, in ihrer Freistunde, die Pfeifen entzündeten und anschließend dicht an dicht in ihren Hängematten im eigenen Qualm hingen wie Räucherwürste.
Husten, Rotzhochziehen, erderschütterndes Schnarchen und das, was Seeleute und Soldaten von jeher den Schrei der eingesperrten Scheiße nannten, machten den Weg in den Schlaf und schöne Träume beschwerlich, qualvoll, zumal man bestimmten Bedürfnissen in der Enge schlecht nachgehen konnte. Es hätte noch die Hängematten der Nebenleute in Schwingung versetzt und raue Witze über den hohen Seegang, Brecher an Steuerbord, Brandung voraus provoziert. Derlei Intimität fand nur für wenige rasche Handbewegungen auf dem Abtritt statt. Und selbst dann wurde, wer zu oft ging, höhnisch gefragt, ob der Durchfall grassiere. 72° 46’ Breite und 118° 12’ Länge waren kein guter Ort, um vierzehn Jahre alt zu sein!
63.
Gowers wurde täglich zu ermüdenden Audienzen auf das Frauenboot gerufen, wo ihm, hinter einer improvisierten Purdha verborgen, die das gesamte sechs Meter breite Boot teilte, eine anscheinend immer größere Anzahl von Frauen Fragen stellte, die nichts mit seiner Ermittlung zu tun hatten. Animierte Fragen über Amerika und seine Bewohner.
Ob es wahr sei, dass ganze Schiffsladungen von Prostituierten und weiblichen Verbrechern von New York nach Kalifornien gebracht worden seien, um den Goldgräbern als Ehefrauen zu dienen? Dass die Indianer in den Prärien weiße Frauen entführten, und ob diese später wirklich das Leben in den Wigwams der roten Männer demjenigen in den Blockhütten der weißen Männer vorzögen? Und warum? Die Mode in den großen Städten? Theater, Oper, Bälle, Bildungssystem? Diese Konversation wurde auf Bengali geführt, sodass der bedauernswerte Mukhopadhyaya nahezu pausenlos übersetzen musste.
Der Investigator machte sich sehr schlecht als Gesellschaftsreporter, und er merkte dabei einmal mehr, dass er sich für das eigentliche, das normale Leben normaler Menschen weder eignete noch sonderlich interessierte. In Verlegenheit brachten sie ihn dennoch nur ein einziges Mal. Warum so viele Ehen in Amerika nicht von den Familien arrangiert, sondern von den Betroffenen, dem jungen Mann und der jungen Frau, selbst geschlossen würden? Nun – er war froh, dass außer seinem Anwalt niemand sehen konnte, wie er die Augen verdrehte – das hätte wohl viel mit Liebe und Leidenschaft zu tun. Und mit Freiheit, wollte er hinzufügen, ließ es aber dann sein.
Jaja, war die Antwort, aber ob es nicht besser und sinnvoller wäre, wenn Liebe und Leidenschaft sich erst in der Ehe entwickelten statt schon vorher? Gowers verstand nicht gleich. In Indien, lautete schließlich die Erklärung, seien Liebe und Leidenschaft wie ein Topf mit kaltem Wasser, der auf die offene Flamme der Ehe gesetzt würde. In Amerika ein Topf mit kochendem Wasser, der auf einen kalten Herd gestellt wird. Gowers erwiderte amüsiert, dass er weder Koch noch Ehemann sei, aber er erkannte doch die eigentümliche Bedrohung, die von einer solchen Denkweise für sein Selbstverständnis ausging.
Der Westen kannte arrangierte Ehen nur als Zweckbündnisse politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Natur. Dass Eltern und ältere Verwandte manches – und auch Liebesdinge – vielleicht wirklich besser wissen können und dass man ihrem Urteil vertrauen darf, war ein Gedanke, der dem abendländischen Individualismus nicht nur fremd war, sondern ihm entgegenstand. Was hieß das aber anderes, als dass Individualismus und Vertrauen einander in letzter Konsequenz ausschließen? Auch Gowers vertraute im Grunde weder auf etwas noch auf jemanden – außer sich selbst.
Aber ehe er diesen Gedanken weiter vertiefen konnte, wurde ihm klar, dass das Gespräch wieder nur Teil einer Inszenierung war, weil die Boote in diesem Moment die letzte Flussschleife vor Agra durchfuhren und am Horizont im Osten das Grabmal von Arjumand Banu Begum, besser bekannt als Mumtaz Mahal, auftauchte. Wer im amerikanischen Sezessionskrieg in einer
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