Das blaue Siegel
er am Leib trug, ging er seiner Gruppe voraus, in der sicheren Erwartung, das neun Meilen entfernte Schiff noch am gleichen Nachmittag zu erreichen. Aber er war erst wenige Stunden gegangen, als der Nebel kam. Er rollte von Norden heran wie ein Sandsturm, verschluckte den einsamen Wanderer, und bald wusste der Kapitän weder, wo er war, noch, in welche Richtung er gehen musste. Der Nebel verbarg auch den Himmel vor ihm, kein Stern war zu sehen, und in der Dunkelheit der arktischen Nacht erkannte er schließlich nicht einmal mehr seine eigenen Fußspuren.
Nach langem Suchen fand er ein einzelnes Streichholz in seinen Taschen und entzündete es in der Hoffnung, einen Blick auf den Kompass werfen zu können. Aber der Wind blies es aus, kaum dass die winzige Flamme aufgesprungen war, und er wusste, dass nun elf lange Stunden vor ihm lagen, bis er sich zumindest wieder orientieren konnte. Fünfzehn Grad unter null, und der Nebel verdichtete sich zu einem Schneegestöber. Er suchte die Leeseite eines Presseisrückens und legte sich in den weichen, trockenen Schnee, um vor seiner leider nur zu lebhaften Fantasie in den Schlaf zu flüchten. Als er die Augen wieder aufschlug, glaubte er, sekundenlang den Widerschein einer Rakete zu sehen, und feuerte seine Waffe ab, in der Hoffnung, dass man ihn hören und suchen würde. Erst danach stellte er fest, dass er bis auf die Kugel im Lauf keine Munition bei sich hatte, und fragte sich, ob es hier Eisbären gab.
Die riesige Nebelbank war unterdessen weitergezogen; er sah wieder Sterne über sich und eine berückend schöne Aurora Borealis, aber weder die Inseln noch sein Schiff. Sein Bart war im Schlaf am Kragen seiner Pelzjacke festgefroren, und er brauchte fast eine Stunde, ehe er wieder warm genug war, um auch nur den Kopf zu drehen. Ziellos stapfte er über das Eis, wie der letzte Mensch über die tote Erde. Immer wenn er stehen blieb, um Umschau zu halten, fühlte er, wie der Schweiß auf seinem Rücken und in seinen Achselhöhlen gefror. Ein seltsames Geräusch begleitete ihn. Zuerst glaubte er, es sich einzubilden, und legte die Hände auf seine Ohren, um festzustellen, ob es in seinem Kopf war. Aber da war nichts, er hörte es wirklich, ein sehr leises Scharren, Kratzen, wie schnelle Schritte unmittelbar neben ihm. Er lachte über sich selbst, als er endlich begriff, dass es das Ticken der Uhr in seiner Hosentasche war.
Die Stille und Einsamkeit dieser nächtlichen Wanderung waren überwältigend, die Kälte würde bald tödlich sein. Während er einen tauben Fuß vor den anderen setzte, hatte McClure irgendwann das Gefühl, dass sein eigenes Herz das einzig und letzte Warme in der Welt war. Als er den Kompass wieder erkennen konnte, stellte er fest, dass er am Schiff vorbeigegangen sein musste, drehte sich in der Spur um und sah schließlich am Morgen des 31. Oktober, nach zwanzigstündigem Umherirren, die Masten der Investigator haarfein in einen strahlend blauen Himmel ragen.
Dort befürchtete man zunächst eine Katastrophe, als der Kapitän allein und mehr einer Leiche als einem Menschen ähnlich aus der Eiswüste zurückkam. Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis die wärmenden Hände verschiedener Männer seine erstarrten Gesichtsmuskeln so weit gelockert hatten, dass McClure zumindest flüstern konnte. Und so teilte er seiner kleinen Welt mit, dass die Nordwestpassage gefunden war.
61.
Erst auf dem Fluss wurde Gowers klar, warum er sich seit fast einem Monat so elend fühlte: Es war fast genau die Zeit, die er in Delhi festsaß. Natürlich hätte er seine Reise auch mit einem moderneren Beförderungsmittel antreten können, denn die Eisenbahnlinie reichte immerhin bis nach Agra – von dort bis Allahabad befand sie sich jedoch noch im Bau, und erst von Benares aus existierte ein regelmäßiger Zugverkehr nach Kalkutta und den Städten des Ostens.
Genau genommen war die Eisenbahn sogar seine erste Wahl gewesen, aber zwei Umstände brachten ihn wieder davon ab. Zum einen konnte er auf der gemächlicheren Reise den Fluss hinunter seine Ermittlungen und Verhöre fortsetzen, da ein Großteil des königlichen Hofes und damit der Beteiligten ihn begleitete.
Er hatte Zinat Mahal Begum auseinandergesetzt, dass die Spuren der Mörder und ihrer Auftraggeber in Lakhnau aufgenommen werden mussten, und sie hatte seine Schlussfolgerungen so scharfsinnig gefunden, dass sie ihm durch Abdur Ruhiman den offiziellen Auftrag erteilen ließ, eine Schwester des Nawabs von
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