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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Oudh in die ehemalige Residenzstadt zu geleiten. Dass Zinat Mahal Begum selbst diese Schwester war, wusste jeder an Bord der Boote, auch wenn sie sich niemals zeigte und auch niemand darüber zu reden wagte.
    Zum anderen konnte Gowers die Spitzel und Zuträger Ruhimans auf dem Fluss zwar nicht abschütteln, aber sie zumindest von der Telegrafenlinie fernhalten und so vor seinem eigentlichen Auftraggeber – und er vermutete spätestens aufgrund seiner schriftlichen Vollmachten, dass dies der britische Geheimdienst war – einen Informationsvorsprung gewinnen.
    Die Reise auf der Djumna unterschied sich merklich von der Herfahrt auf dem Chambal. Der Fluss selbst war größer, führte aber nicht durch das kühlere und abwechslungsreiche Hochland von Malwa, sondern durch eine eintönige Kulturlandschaft, träge Felder unter flirrender Hitze, auf Meilen hin ohne nennenswerte Erhebung. Infolge der Jahreszeit war das Wasser stark gefallen, und links und rechts traten bis zu vierzig Meter breit die flachen, schlammigen Ufer hervor; dunkel, wo der Fluss sie noch gelegentlich überspülte, hellbraun und unter den Fußspuren von Mensch und Vieh zu bizarren Strukturen erstarrt, wo kein Tropfen mehr hindrang, an den eigentlichen Uferböschungen schon zu grobem, ockerfarbenem Sand zerfallen, den kein Wind forttrug.
    Der Fluss war hier und da schon so schmal geworden, dass der Verkehr auf ihm zum Problem wurde. Aber jedes der flussaufwärts treidelnden Händler- und kleinen Fischerboote, die in schlammige Untiefen ausweichen mussten, führte Gowers nur neu vor Augen, dass er reiste, wie ein römischer Prokonsul in Ägypten gereist sein mochte. Seine Flotte bestand aus drei großen Budgerows oder Hausbooten; eins für die Männer, eins für die Frauen samt ihrer Dienerschaft und das dritte für die fünfzehn Bewaffneten, die die kleine Flusskarawane schützten. Dazu zwei flache Mussoolas als Gepäckboote, ein Küchenboot, das auch die Vorräte gelagert hatte, eine kleinere Gig, die als Fähre fast unablässig zwischen den großen Booten hin und her pendelte, sowie eine größere, in der vier der Soldaten vorneweg fuhren, um den Gegenverkehr abzudrängen.
    Zum ersten Mal hatte der Investigator jetzt sozusagen den Informationsfluss in der Hand, indem er jederzeit wusste, wer auf welchem Boot fuhr und mit wem reden konnte. Zum ersten Mal war es ihm auch möglich, ungestört und – von »seinem« Übersetzer Mukhopadhyaya abgesehen – ohne Zuhörer mit seiner wichtigsten Zeugin zu sprechen. Gowers ruderte persönlich die Gig, in der Niazoo verwundert und der Anwalt schicksalsergeben Platz genommen hatten, und da nur gelegentliche Schläge nötig waren, um das kleine Boot in der Mitte der Strömung zu halten, konnte er sich mühelos auf das Gespräch konzentrieren.
    »Warst du dabei, als Bahadur Sha vor acht Jahren ins Exil ging?«
    »Meine Herrin Zamani Begum war dabei, und ich habe sie begleitet.«
    »Bis Allahabad?«
    »Ja.«
    »Was geschah dort?« Niazoo blickte sich nervös nach den Budgerows um, aber Gowers beruhigte sie. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Niemand wird erfahren, was du mir erzählst. Was geschah damals in Allahabad?«
    »Die alte Begum, Zinat Mahal«, berichtete die Dienerin stockend, »hat dort beschlossen, nach Delhi zurückzukehren.«
    »Nur sie allein?«
    »Nein, Sahib. Auch meine Herrin und ihre Töchter. Und ihre Schwester Ruqaia Begum mit ihrer kleinen Tochter.«
    »Die Frauen gingen also zurück, und die Männer zogen weiter nach Rangoon.«
    »Ja.«
    »Der Mogul und seine Söhne. Aber nicht sein Enkel, der Prinz, nicht wahr?« Niazoo nickte, die Augen starr auf das träg strömende Wasser der Djumna gesenkt. »Anstelle des Prinzen wurde ein anderes Kind in die Verbannung geschickt.« Die Dienerin nickte wieder, diesmal so schnell, als hoffte sie, ihre Erinnerungen dadurch weiter hinter sich lassen zu können. Gowers machte jedoch eine lange Pause, ehe er fortfuhr: »Wie war sein Name?«
    »Sayyid«, antwortete Niazoo sehr leise und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Niemand hatte je nach diesem Namen gefragt, und es war lange her, dass sie selbst ihn ausgesprochen hatte. Stets war er nur in ihrem Kopf gewesen, in den einsamen Nächten, in denen sie um ihren Sohn weinte.
    Gowers trieb das Boot mit einigen kräftigen Schlägen voran, damit auf den Budgerows niemand die plötzliche Rührung der unglücklichen Frau bemerkte, die jetzt mit ihren gebrochenen Händen den Schleier

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