Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
Wagen noch niedrig genug war, weil Straßen und Wege, durch die jährlichen Monsunregenfälle immer wieder geradezu fortgeschwemmt, sich in einem erbärmlichen Zustand befanden. Das änderte sich erst, als sie auf die Grand Trunk Road stießen, die zweitausend Kilometer lange, von britischen Militäringenieuren angelegte Heerstraße, die Kalkutta und Delhi miteinander verband. Die entsprechende Eisenbahnlinie wies, obwohl seit Jahren forciert, noch immer die bekannte Lücke zwischen Agra und Allahabad auf. Die Grand Trunk Road verlief auf einem befestigten Damm und auf Meilen hin parallel zum heiligen Fluss, der Ganga. Da der Damm stellenweise eine Höhe von fünf Metern erreichte, sah man sie im Norden unter den Strahlen der Sonne glitzern wie ein silbernes Band mitten im immer brandigeren Grün der Felder.
    Der dritte Tag auf der Straße begann mit einer schmalen, aber langgezogenen Staubwolke im Westen und einem merkwürdigen Geräusch, das der Wind in Fetzen vor sich hertrieb; eine Art Summen, durchsetzt mit Tönen, die, wenn sie vereinzelt und leise zu ihnen drangen, an das Geschrei rolliger Katzen erinnerten. Gowers kletterte auf das Dach des letzten Wagens und blickte durch das Fernrohr zurück. Die Optik löste die Staubwolke in die fast zwei Meilen lange Kolonne einer Armeeeinheit auf, und er wusste, dass er Dudelsäcke hörte. Er hatte in den letzten Tagen genug Wracks und Wagenreste links und rechts des Dammes gesehen, um zu wissen, dass sie in Schwierigkeiten waren, wenn sie nicht binnen der nächsten Stunde eine Ortschaft, eine Kreuzung, jedenfalls eine seitliche Ausweichmöglichkeit erreichten.
    Die Straße war so schmal, dass die Truppe, die dort kam, sie mitsamt ihren Wagen, Pferden, Soldaten, Dienern, Königinnen und Gepäck vom Damm fegen würde. Gowers gab entsprechende Befehle an die Kutscher, die das Problem aus leidvoller Erfahrung kannten und die Pferde antrieben, als sei der Teufel hinter ihnen her. Der Investigator selbst blieb auf dem Dach sitzen und behielt das waffenstarrende Untier im Auge, das ihnen langsam, aber mit unaufhaltsamer Stetigkeit nachkroch. Bald konnte er sogar schon den Marschtakt ausmachen.
    Eine marschierende Armee ist ein gewaltiger Organismus auf vielen tausend Stiefeln, Hufen und Rädern. Die ersten Hörner des großen Drachen, indische Aufklärer auf staubbedeckten Pferden, erreichten sie nach ungefähr einer halben Stunde, als noch immer keine Rettung in Sicht war. Es waren malerische Gestalten, die, abgesehen von ihrer modernen Bewaffnung, ohne aufzufallen auch im Dreißigjährigen Krieg hätten mitkämpfen können. Hohe, sporenklirrende Schaftstiefel reichten bis unter die blutroten Alkalaks , die Uniformröcke, über denen sie trotz der üppig heranwabernden Morgenhitze lederne Westen mit Fellbesatz trugen. Schwarze Kreuzgurte und das Lederkoppel mit dem schweren Kavalleriesäbel vervollständigten den martialischen Eindruck, aber am auffälligsten waren zweifellos die irrwitzig langen Bärte und Mähnen unter den dunkelblauen Turbanen.
    Die Reiter der 2nd Punjabi Cavalry waren fast ausnahmslos Sikhs, die im großen Aufstand loyal geblieben waren und denen ihre Religion das Scheren von Kopf- und Barthaar untersagte. Entsprechend verwildert sahen sie aus – und ihr Benehmen entsprach ihrem Aussehen. Ohne mehr zu sagen als »Straße frei!« und »Aus dem Weg!«, machten zwei von ihnen Anstalten, die Kutschpferde kurzerhand den Damm hinunterzudrängen – was nur misslang, weil der Investigator seinen Kutschern anzuhalten befahl. Als der vorderste dieser Reiter trotzdem ins Geschirr der Zugpferde griff, brüllte Gowers in einem Tonfall, den er seit zwei Jahren und der Schlacht in der Wilderness von Spotsylvania nicht mehr angeschlagen hatte: »Finger weg, Soldat! Zurück in die Linie! Sofort!«
    Der Mann blickte verwundert auf die seltsame Gestalt auf dem Wagendach, gehorchte aber instinktiv, wie ein gut dressierter Hund, dem Tonfall und der Haltung, denn Gowers hatte ein Bein lässig vorgestellt, die Hände auf den Rücken und die linke Hand um den rechten Ellenbogen gelegt. Er trug die Offiziersmütze einer Armee, die in Indien neu sein musste. Als die Dinge bis zu diesem Punkt – nämlich zum Stillstand – gekommen waren, sprengte der Offizier der Vorausabteilung heran, der womöglich noch kurioser aussah als seine Männer. Um eine filzbespannte Pickelhaube trug er ein mehrfach gewundenes dunkelblaues Tuch, am Hals einen grünen Schal mit gelben Troddeln,

Weitere Kostenlose Bücher