Das blaue Siegel
Aufklärungsabteilung gedient hatte, musste es zuerst für einen Fesselballon halten; das strahlende Weiß der zweihundertfünfzig Fuß hohen Marmorkuppel schien tatsächlich über der flirrenden Luft zu schweben, und erst im Nähergleiten verfestigten sich die rings um diesen vollendeten Kreisbogen tanzenden Luftspiegelungen zu vier schlanken, weißen Minaretten.
»Das, Mr. Gowers«, sagte die Königin triumphierend, »ist Liebe!« Mit allem Bombast eines schlechten Dichters oder eines ausgeleierten Fremdenführers erzählte sie nun vom Leben und Sterben der schönen Gattin des legendären Mogulkaisers Sha Jahan, seiner unstillbaren Trauer und seiner endlosen Liebe, die schließlich die Form dieses größten und schönsten Bauwerks Asiens angenommen hätten.
»Ja, sehr geschmackvoll«, antwortete Gowers, fast ein wenig dankbar dafür, dass diese pathetische Geschichte dem Tadsch Mahal doch vieles von seiner unzweifelhaften Wirkung nahm. Gefrorene Musik hatten westliche Reisende das riesige Mausoleum schon früh genannt, und Gowers konnte nicht umhin, den Vergleich passend zu nennen – wenn auch das gewaltige, bis weit in den Fluss ragende Fundament der Grabanlage in seinen Ohren eher einen Tusch oder eine Fanfare als Sphärenklang darstellte.
Das Tadsch Mahal war schön, so schön, dass die Kolonialherren noch im 19. Jahrhundert die absurde Ansicht vertraten, nur ein europäischer Baumeister, gleich ob Franzose oder Italiener, habe es entwerfen und errichten können. Auch hatte der Gedanke, dass hier kein Gott oder Kaiser, sondern eine geliebte Frau verherrlicht wurde, etwas durchaus Ergreifendes. Während sie langsam an so viel Pracht und Schönheit vorüberglitten, dass sogar die letzte Königin von Delhi irgendwann aufhörte, von Größe und Ruhm des Mogulhauses zu plappern, und das gleichzeitig kolossale wie filigrane Gebilde nur noch mit staunenden Augen verschlang, wurde Gowers allerdings schlagartig klar, warum er die etwas kleinere, deutlich hässlichere, profane Gusseisenkonstruktion der dreitausend Tonnen schweren Kuppel des Kapitols in Washington dem Tadsch Mahal immer vorziehen würde: Die Arbeiter, die sie gebaut hatten, waren angemessen dafür bezahlt worden!
64.
Seit Parry im Jahr 1820 von seiner großen, so immens erfolgreichen Expedition nach Melville Island zurückgekommen war, beziehungsweise seinen Bericht darüber veröffentlicht hatte, hatte man in England ebenso genaue wie falsche Vorstellungen davon, wie eine Überwinterung englischer Seeleute im Eis abzulaufen hatte. Parry hatte die Männer seiner beiden Schiffe Hecla und Griper ständig beschäftigt – und wenn nicht beschäftigt, dann unterhalten; ein Theater eingerichtet, eine Bordzeitung gegründet, Gemüse gezogen, die verschiedensten Wettbewerbe veranstaltet und die Analphabeten von seinen Offizieren im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten lassen.
Mit Ausnahme der Schule, die die Männer der Investigator allerdings eher als zusätzliche Schikane empfanden, geschah auf ihrem Schiff nichts von alledem. McClure war ein guter Seemann, ein hervorragender Navigator, ein geachteter Kommandant, aber kein Entertainer. Die einzige Zerstreuung, die er seinen Männern bieten konnte, war Arbeit – und davon gab es zu wenig. Auf eine masochistische Weise war er deshalb zum Beispiel froh, als gemeldet wurde, dass die Kerzenvorräte unter Deck – niemand wusste, wann und wie – während des Sommers zu einem einzigen großen Klumpen zusammengebacken waren, denn damit hatten sie eine ganze Woche zu tun. Während die einen auf dem Eis aus nasser Leinwand und Schnee Kerzenformen verfertigten, gruben und bohrten andere in der kolossalen Wachsmasse nach den Dochten. Anschließend wurde das Ganze portionsweise eingeschmolzen und in die improvisierten Formen gegossen, bis wieder jeder Mann die drei Zentimeter Licht bekam, die ihm laut einem Admiralitätsbeschluss täglich zustanden.
Man versuchte sich schon an kleinen Lustbarkeiten, Deklamationsabenden, Tanzvergnügen, der Kapitän lud die Offiziere, die Offiziere den Kapitän und die Mannschaft wieder Offiziere und Kapitän in ihre jeweiligen Quartiere ein, die dann so festlich-fröhlich wie möglich dekoriert wurden, aber entweder waren die Matrosen zu stumpf oder die Offiziere zu steif: Die disziplinierte polarnächtliche Ferienstimmung, wie Parry sie beschrieben – wenn auch nicht immer selbst erlebt! – hatte, wollte sich an Bord der Investigator nicht einstellen. Immer
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