Das blaue Siegel
den Patienten hergebracht hatten und irgendwie planlos herumstanden. Er wollte den Raum so schnell und grußlos wieder verlassen, wie er ihn betreten hatte, um sich noch ein Weilchen seiner Flasche zu widmen. Schlafen konnte er morgen im Dienst.
»Nicht so schnell«, erwiderte ein Weißer, der ihm hinter den Sepoys bisher nicht aufgefallen war, obwohl er anscheinend das Kommando hatte. »Ich möchte, dass Sie den Mann untersuchen.«
»Warum? Das wird dem armen Teufel auch nicht mehr helfen.«
»Nein, aber mir könnte es möglicherweise helfen.«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Gowers. John Gowers. Ich bin …« Ehe er fortfahren konnte, erhellte bereits ein breites, wohlwollendes Grinsen das Gesicht des jungen Arztes.
»Captain der 4th Illinois, Aufklärungsabteilung«, sagte Meecham, und als er die Verwunderung seines Gegenübers bemerkte, fügte er hinzu: »Amüsante Neuigkeiten sprechen sich im Offizierskasino von Kanpur schnell herum. Und der alte O’Reilly hat Ihretwegen einen mächtigen Anschiss bekommen. Den nächsten Amerikaner, den er auf der Straße sieht, wird er mit Sicherheit niederreiten! Was tun Sie hier? Ich meine, was machen Sie in Indien, wenn Sie nicht gerade die britische Armee aufhalten oder anderen Leuten mitten in der Nacht Leichen ins Haus schleppen?«
Gowers hielt den Mann in seinem seidenen Paijama für betrunkener, als er war, und sagte kurz angebunden: »Ich untersuche hier einige Mordfälle.«
»Aha«, erwiderte Meecham mit einem verständnislosen Blick auf die Leiche des Unberührbaren auf seinem Behandlungstisch. »Ziemlich seltsames Hobby.«
»Es ist mehr eine Profession. Ich bin Investigator …« Gowers stellte sich allmählich auf seinen Gesprächspartner ein und wartete die fällige Frage nicht ab. »Ein privater Ermittler. Dieser Bursche hier wollte mich umbringen, und ich müsste unbedingt herausfinden, wer oder was er war.«
»Nun, in erster Linie war er wohl herzlich untalentiert«, sagte der Arzt nach einer verwunderten Pause trocken. »Dann wollen wir uns den Kerl mal ansehen!«
69.
Der Mörder war kein Unberührbarer, so viel stand schnell fest, als sie ihm die schmierigen Kleider ausgezogen hatten. Unter der Maske des Parias war er sauber und vor allem sehr gut genährt, was ihn im Indien von 1866 zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Eingeborenen machte. Er hatte auch offensichtlich nie viel mit seinen Händen gearbeitet, denn es fanden sich keine Schwielen oder Risse, keine brüchigen oder schmutzigen Fingernägel. Der Tote war vielmehr auffallend gepflegt. Wenn er nicht selbst vermögend gewesen war, musste er in höherer Stellung für vermögende Leute, ein Handelshaus oder Ähnliches tätig gewesen sein. Dafür wiederum war er bemerkenswert jung, weit unter dreißig, soweit sich das feststellen ließ.
Gowers erwarb sich den nachhaltigen Respekt des Armeearztes, indem er aus einer winzigen Verhärtung am obersten Glied des rechten Mittelfingers schloss, dass der Mann in seinem Leben offenbar viel geschrieben hatte, also definitiv zur gebildeten Oberschicht gehört haben musste. Das wiederum schränkte seine Herkunft oder Zugehörigkeit auf Kreise ein, in denen man ihn wahrscheinlich vermissen würde.
Ein Rätsel blieb die kleine blaue Tätowierung auf seinem Rücken, direkt zwischen den Schulterblättern: eine Art verschnörkelte Rune in einer Kartusche, also einer schmalen Umrandung, die Gowers an ägyptische Hieroglyphen denken ließ. Sie war blass und etwas verwaschen, so, als ob sie angebracht worden sei, als der Mann noch nicht ausgewachsen war. Etwas Derartiges hatte auch Meecham noch nie gesehen, der ansonsten mit den Zeichen indischer Geheimbünde überraschend vertraut zu sein schien.
»Thugs verwenden meist kleine Striche und Punkte in bestimmten Kombinationen«, sagte er. »Niemals etwas so Ausgefallenes. Es sieht schon fast wie ein Siegel aus.«
»Wer oder was sind Thugs genau?«, fragte Gowers, der über diese unheimlichen Mörderclans bislang nur düstere Gerüchte gehört und gelesen hatte.
»Nun, man könnte sagen, eine große Familie«, erklärte der Arzt. »Mit ausgeprägten Interessen im Bereich der Eigentumsverschiebung. Und um solche Verschiebungen endgültig zu machen, pflegen sie die Opfer ihrer Transaktionen umzubringen. Professionellen Raubmord würde man es in England wohl nennen. Das Besondere ist nur, dass dieser Beruf erblich ist. Thug wird man durch Geburt, nicht durch Neigung oder Fähigkeit. Wenn die
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