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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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instinktiv, dass es die Schritte eines Fremden sein mussten. Die Wache, die Diener, Frauen, Mukhopadhyaya – wer immer in den Palast gehörte, hätte sich anders bewegt. Er zog sich, lautlos auf seinen nackten Füßen, in den tiefen Schatten des Raums zurück. Die Tür schob sich langsam, zentimeterweise auf; dann war der Fremde im Zimmer, den Gowers aufgrund seiner besonderen Sehfähigkeit deutlich erkennen konnte.
    Er war in Schwarz und Grau gekleidet, abgerissen wie ein Paria, und er versuchte, möglichst leise zu sein, war darin aber ebenso ungeübt wie in der Kunst, im Dunkeln zu sehen. Statt ruhig und gleichmäßig zu atmen, schlich er mit angehaltenem Atem zum Bett, und Gowers hätte das Schauspiel wahrscheinlich lustig gefunden, wenn er nicht auch das Messer in der Hand des anderen gesehen hätte.
    Als der Mann den Druck, unter dem er naturgemäß stand, nicht mehr aushalten konnte, sprang er mit zwei Sätzen zum Bett und stach mehrmals auf das leblose Kleiderbündel ein, das darauf lag. Und ehe er die Sinnlosigkeit seiner meuchlerischen Bestrebungen noch ganz erfasst hatte, fühlte er, wie ein heftiger Schlag sein Schultergelenk und seinen rechten Arm lähmte. Irritiert drehte er sich um und bekam den zweiten und dritten Schlag ins Gesicht, woraufhin er betäubt auf dem Bett und den Kleidern des Investigators liegen blieb.
    Gowers rollte ihn von dort auf den Boden, denn er wollte die Wache nicht verständigen, ehe er nicht zumindest seine Hosen wieder angezogen hatte. Als er schließlich auf dem Gang nach den Soldaten rief, hatte der Eindringling sich deshalb so weit erholt, dass er zum Fenster taumelte. Ehe der Investigator es verhindern konnte, saß er auf dem Sims, und im gleichen Moment, als die Fackeln der Wachen den Raum erhellten, ließ er sich rückwärts acht Meter tief fallen. Gowers erinnerte sich an die Aussage, der Mörder von Delhi sei von der Mauer des Roten Forts gesprungen wie eine Katze, aber als er sich über die Brüstung beugte, sah er, dass dieser hier gefallen war wie ein Kartoffelsack.
    Ohne allzu viel Hoffnung befahl er den Männern, den leblosen Körper zum besten Arzt der Stadt zu schaffen, und zog seine Stiefel an, um die seltsame nächtliche Prozession zu begleiten.
     

68.
     
    Obwohl er noch keine fünfunddreißig Jahre alt war, hatte Clifford Meecham doch bereits vollkommen weiße Haare. Sie bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu seinem sonst fast noch jugendlichen Äußeren, und zunächst hatte er deshalb versucht, mithilfe von Haarfärbemitteln seine ursprünglich blonden Locken zurückzugewinnen. Aber die Ergebnisse waren so lächerlich gewesen, dass er stattdessen beschloss, sich lieber das Gesicht und die Figur anzutrinken, die zu seinen weißen Haaren passen würden. Das war ihm, von einer leichten Rötung der Wangen abgesehen, aber bisher trotz täglicher, neunjähriger Bemühungen noch nicht gelungen. Meecham hatte nicht ein Gramm zugenommen, seit er in Indien war, und auch seine Haut zeigte noch nicht die grobporigen Anzeichen eines Lebenswandels, den man nur als Vergewaltigung der menschlichen Natur bezeichnen konnte. Nur in seinem Inneren richtete der Alkohol Verwüstungen an, die seine Lebenserwartung dramatisch verkürzen würden, und eigentlich hätte ihn der Garnisonsarzt von Kanpur längst als untauglich aus dem Militärdienst entlassen müssen – wenn Meecham nicht selbst dieser Arzt gewesen wäre.
    Er hatte noch nicht geschlafen, als es gegen drei Uhr morgens an seine Tür klopfte und ein Diener, auf den das nicht zutraf und der mühsam sein Gähnen unterdrückte, die Ankunft einer Gruppe Sepoys mit einem Verwundeten meldete. Meecham machte sich nicht die Mühe, seinen seidenen Paijama gegen ein offizielleres Kleidungsstück zu vertauschen, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Soldaten nicht nur zu jeder Tages- und Nachtzeit verwundet werden, sondern dass es ihnen auch völlig egal ist, ob ihnen ein Mann im Schlafrock oder in einer Gala-Uniform das Leben rettet. Immerhin nahm er die noch halb gefüllte Flasche Whisky mit, als er hinunter in seinen Behandlungsraum ging.
    Ein kurzer Blick in die gebrochenen Augen des Parias , der auf dem hohen hölzernen Tisch lag, sagte ihm, dass der Mann tot war, vermutlich Genickbruch. Außerdem hatte er ein paar ziemlich kräftige Schläge ins Gesicht bekommen, was angesichts des Gesamtergebnisses allerdings ziemlich bedeutungslos war.
    »Tot«, sagte Meecham achselzuckend zu den sechs indischen Soldaten, die

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