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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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hinauskroch. Seine Flüche weckten die anderen endgültig. Während er auf die Leeseite eines Eishügels zustapfte, zog er seine Handschuhe aus und nestelte unter der schweren, steifen Winterjacke umständlich an seiner Hose, um an seinen Penis heranzukommen. Noch immer musste man ihn beim Pinkeln mit der ganzen Hand bedecken, um Erfrierungen zu vermeiden. Er hatte das Zelt eben erst aus den Augen verloren und war in seinen Bemühungen noch nicht weit fortgeschritten, als der Tod vor ihm aufsprang.
    Der Bär hatte bereits sein schmutzig gelbliches Sommerfell, aber noch lange nicht wieder sein volles Gewicht. Dünn und hager, aber aufgerichtet fast zweieinhalb Meter groß, stürzte er sich ohne einen Laut auf das seltsame Wesen. Er war noch jung, keine vier Jahre alt. Er hatte noch nie Menschen gesehen. In einer Schneehöhle auf einer noch unentdeckten Insel des hohen Nordens geboren, die nicht wusste, dass sie einmal Ringnes Island heißen würde, war er über das Eis der Maclean und der Desbarat Strait, des Byam-Kanals und des Melville Sound neunhundert Meilen nach Süden gewandert; zuerst noch mit seiner Mutter, seit zwei Jahren ganz allein.
    Gestern hatte er die Spuren gefunden, die er nicht deuten konnte. Aber weil es in seiner riesigen Welt nichts gab, was stärker war als er, weil alles Beute war, was er fand, war er den Spuren gefolgt. Am Morgen hatte er die Verursacher der Spuren schließlich gesehen; dunkle Gestalten, die er für eine Art zweibeiniger Wölfe hielt, die sich allerdings sehr merkwürdig verhielten. Sie stanken – wahrhaftig der stärkste Geruch, den er je auf so große Entfernung wahrgenommen hatte –, aber sie bewegten sich völlig unbekümmert über die Richtung, in die der Wind ihren Gestank trug. Dann gingen sie unter das Eis oder vielmehr nicht unter das Eis, sondern unter ein Ding, das die Farbe von Eis hatte: ein schmutziges Grau und Weiß. Er wusste, dass Robben manchmal Schneehöhlen auf dem Eis gruben, um ihre Jungen darin abzulegen, damit man sie nicht an der Oberfläche sehen konnte. Er konnte diese Höhlen, die rasch vereisten, mit beiden Vordertatzen und seinem Körpergewicht leicht durchbrechen, aber dieses Ding war die verdammt größte Schneehöhle, die er sich vorstellen konnte, und er hatte keine Ahnung, was ihn darunter erwarten würde. Robben waren es jedenfalls nicht.
    Er ging so dicht heran, dass ihn der Geruch beinahe betäubte. Dann sah er, wie eines der Wesen die Höhle verließ, sich sorglos in den Schnee hockte und Losung von sich gab. Anschließend ging es wieder hinein, ohne ihn bemerkt zu haben. Also beschloss er, sich auf die Lauer zu legen. Vielleicht kam ja wieder eines heraus. Nach sechs Stunden, als er schon fast ganz vom fallenden Schnee bedeckt war, wurde seine Geduld belohnt; eine der dunklen Gestalten verließ die Höhle, brüllte kurz und unmutig über den Schnee, der auf sie fiel, und kam dann direkt auf ihn zu. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er jetzt nicht mehr ungesehen fortgekommen, also sprang er hoch und stürzte sich auf das kleine Tier, in einer einzigen schnellen Bewegung. Sonderbar dabei war eins: Irrte er sich, oder hatte sich das Wesen schon einen Sekundenbruchteil vor seinem Angriff umgedreht und zu schreien begonnen?
    Schon Sekunden ehe der Schnee sich vor ihm hob und das große Tier ihn ansprang, wusste John, dass etwas nicht stimmte. Wusste nicht, was es war oder woher es kam, stand aber mit einem Mal still und wuchs mit allen Sinnen über seinen Körper hinaus. Als hätte er die Bewegung vorausgeahnt, drehte er sich im gleichen Moment um, als der Bär angriff, und schrie merkwürdigerweise auch die Warnung, ehe er ihn wirklich gesehen hatte. Die Zähne packten ihn deshalb nicht voll, zerrissen nur seine schwere Jacke im Nacken und schlossen sich mit einem lauten hellen Schnappen direkt hinter seinen Ohren. Dann traf ihn der Stoß des Angriffs in den Rücken, und der Junge flog fast fünf Meter in seiner eigenen Spur zurück. Er landete auf Händen und Knien, und obwohl ihm die Wucht fast das Rückgrat gebrochen hatte und seine Schulter merkwürdig taub war, zwang er sich weiter auf das Zelt zu, kroch, huschte am Boden wie eine Eidechse. Er hörte die schweren, sanften Tritte, den heiser keuchenden Atem des Bären und wusste, dass er ihm nicht entkommen würde.
    Ein Tatzenhieb traf ihn am Hintern und wirbelte ihn herum, ohne dass er Schmerzen empfand. Er lag dann neben dem Schlitten, hilflos und auf dem Rücken, als das große

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