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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Tier sich über ihn beugte. Und allein seine Kuriosität als Nahrungsmittel rettete ihm das Leben; wie man an unbekanntem, exotischem Essen erst einmal riecht, so schnüffelte der Eisbär an dem Jungen, drückte seine riesige Schnauze dicht an das merkwürdig warme kleine Gesicht und wollte ihm gerade die Kehle durchbeißen, als er abgelenkt wurde.
    Sie hatten erst wenige Eisbären gesehen und nur zwei erlegt, die Prince of Wales Strait war offenbar keine normale Wanderroute dieser Tiere. Umso elektrisierender war der Ruf »Bär!«, der sie aus dem Zelt springen ließ und schlagartig ihr Jagdfieber und ihre Magensäfte zum Leben erweckte. Draußen sahen sie allerdings zu ihrem Entsetzen, dass diesmal der Bär unmittelbar vor der Befriedigung seines Hungers und zu diesem Zweck über ihrem blutenden Schiffsjungen stand. Alle brüllten, keiner wusste nachher mehr, was, und sie bewarfen den Bären mit allem, was sie in die Hände bekamen: ihren Schuhen, dem Kochkessel, einem Fernrohr.
    Der Bär, der Vergleichbares auch noch nicht erlebt hatte, zog sich irritiert ein paar Schritte zurück, aber als er bemerkte, dass seine Beute, John, unter den Schlitten zu kriechen versuchte, richtete er sich noch einmal hoch auf, um ihn mit seinem gesamten Gewicht zu zerbrechen. Und als McClure, auf Socken, wie alle anderen, gerade mit seinem Wanderstock auf das riesige Tier losgehen wollte, ertönte, trocken und ohne Nachhall in der kalten Luft, endlich der Schuss aus dem Gewehr des Missionars.
    Alle wunderten sich, dass dieser eine Schuss reichte; vor allem der Bär, der nur noch fühlte, wie das Eis an ihm hochsprang und plötzlich schwarz wurde. Danach sahen die Männer seltsam betroffen zu, wie der verletzte Junge sich schreiend auf das tote Raubtier warf und mit bloßen Fäusten auf den großen Kopf einschlug.
     

67.
     
    Seit sie in Kanpur eingetroffen waren und in einem offenbar nur zu diesem Zweck frei gehaltenen Palast am Ganges-Kanal Quartier genommen hatten, fühlte der Investigator eine seltsame Unruhe, die ihn noch wach hielt, nachdem alle anderen – bis auf die Wache – längst schlafen gegangen waren. Er versuchte sich an der Lektüre von Thackerays Vanity Fair , das er aus Mahal Begums englischem Zimmer gestohlen hatte, konnte sich aber nicht konzentrieren. Als er mehrere Kapitel gelesen hatte, ohne sagen zu können, was darin stand, gab er es auf.
    Wo das Zentrum des lähmenden und gleichzeitig merkwürdig euphorischen Gefühls lag, das ihm wie ein Kitzel in Arme und Beine stieg, das er in Brust und Bauch, sogar in den Hoden fühlte, wusste er nicht; nur, dass er es kannte. Gowers hatte Angst stets nur als eine fast schmerzhaft geschärfte Form von Aufmerksamkeit erlebt, ein Gefühl von Klarheit, Wachheit, in der seine überreizte Wahrnehmung immer ein wenig in Raum und Zeit hinauszuwachsen schien. Er spürte dann Dinge, bevor sie geschahen, manchmal tagelang, manchmal nur Sekunden vorher. Es war das Gefühl, mit dem man über Eis geht, von dem man nicht weiß, wie dick es ist und wie es sich bewegen wird. Das Gefühl, den Dingen ausgeliefert zu sein. So hatte er schon in den Minen gefühlt, in seinem ersten Leben, der Fünf-, Sechsjährige, wenn der Berg über ihm, unter ihm arbeitete und die Menschen still wurden vor Entsetzen. Manchmal auch auf See, wenn ein Sturm heraufzog und der Luftdruck die feinen Haare auf seinen Armen elektrisierte. Im Eis, als der große Bär über ihn kam oder als die Deep South in die Luft flog, vor allen Schlachten, allen Kämpfen in seinem Leben. Blöd nur, dass er nie wusste, was geschehen würde, außer, dass er es nicht verhindern konnte.
    Er löschte das Licht, schloss die Augen, um sich schneller an die Dunkelheit zu gewöhnen, und trat dann an die breite Fensteröffnung. Der Kanal stank brackig zu ihm herauf. Jenseits des stockenden Wassers glommen noch die Abendfeuer der Bettler, und er glaubte, kleine graue Schatten zu sehen, die hin und her huschten, um Überreste der armseligen Mahlzeiten zu finden, die dort zubereitet worden waren. Wind strich an der Palastmauer aufwärts, der erste kühle Luftzug seit Tagen, und Gowers breitete die Arme aus, um möglichst viel davon einzufangen. Einer plötzlichen Idee folgend, zog er dann seine Sachen aus und warf sie ungeordnet aufs Bett, stand nackt am Fenster und genoss den Wind, fühlte auch, wie der trocknende Schweiß seine Haut stumpf und unempfindlich machte.
    In diesem Moment hörte er leise Schritte auf dem Gang und wusste

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