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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Ausbildung zum Mörder auch recht solide sein soll«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.
    »Und Kali?« In den Andeutungen, die der Investigator den gestohlenen Büchern über Indien entnommen hatte, fehlte sie nie, die Göttin der Vernichtung, in deren Namen und zu deren Ehren die Thug-Bünde angeblich mordeten. »Ich dachte, Thugs sind eine Art Sekte.«
    Meecham zuckte mit den Schultern. »Einige dieser Herren sind zweifellos religiös. Aber ich denke, wie bei allen Religionen ist auch die alte Kali mehr Vorwand als Ursache. Es mordet sich schließlich immer leichter zur höheren Ehre Gottes als zur persönlichen Bereicherung, nicht wahr?«
    »Kann man Thugs auch mieten?«, fragte Gowers.
    »Sicher«, bestätigte der Arzt. »Obwohl die konservativen Fraktionen unter ihnen darin zweifellos einen Verfall der guten Sitten sehen. Wie hat er es übrigens angestellt? Ich meine, wie wollte er Sie ins Jenseits befördern?« Meecham warf einen fragenden Blick auf die Leiche, und Gowers holte den Dolch hervor, den der Mörder so glücklos verwendet hatte.
    »Das ist nun gar nicht die feine indische Art«, sagte der Arzt und schüttelte den Kopf. »Thugs sind eher Würger, seidene Schnüre sind ihr Handwerkszeug. Obwohl sich die weniger Wählerischen auch mit Hanfkordeln zu helfen wissen. Das ist übrigens genau das, was sie bei den Briten so unbeliebt macht!«
    Gowers, der während des Gesprächs die Tätowierung des Toten in sein Notizbuch übertragen hatte, beendete diese Arbeit jetzt und fragte: »Woher wissen Sie so viel über Thugs?«
    »Wir hatten bis vor ein paar Jahren sehr viel mit diesen Burschen zu tun«, antwortete der Arzt, der nun die Leiche Leiche sein ließ und in einer emaillierten Schüssel seine Hände wusch. Nach kurzem Zögern desinfizierte er sie dann auch noch mit ein paar Spritzern aus seiner Whiskyflasche. »Anhänger Tantia Topis und Nana Sahibs, hieß es. Aber nach der Niederschlagung des großen Aufstands lebte wohl auch rein naturgemäß der Brauch des individuelleren Meuchelns wieder auf.«
    Er nahm einen kräftigen Schluck, um die Desinfektion auf sein Körperinneres auszudehnen, und hielt mit einem freundlichen Grinsen auch Gowers die Flasche hin. Der nahm die Einladung höflich an und sagte dann: »Sie sind schon lange dabei?!«
    »Kann man so sagen«, erwiderte Meecham mit einem Seufzer und ging langsam zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und fragte: »Kommen Sie?!« Gowers nickte, gab den Sepoys Befehl, die Leiche wieder in den Palast zu schaffen, und folgte dem Arzt in seine Privaträume.
     

70.
     
    Bevor irgendeine Entscheidung getroffen werden konnte, mussten sie sich um den Jungen kümmern. Zuerst wollten sie ihn zurück ins Zelt schaffen, aber um ihm nicht unnötig wehzutun, legten sie ihn kurzerhand bäuchlings auf den Schlitten und zogen ihm die zerfetzten Kleider aus. Die rechte Hinterbacke sah übel aus, aber ansonsten hatte er seinen Bärentanz erstaunlich gut überstanden. Ein paar Kratzer auf der linken Schulter, ein paar Prellungen, große blaue Flecken im Rücken. Der zerrissene Gesäßmuskel allerdings musste genäht werden, und gehen, sitzen oder auf dem Rücken liegen würde John Gowers eine ganze Weile nicht können.
    Schnee fiel in die offene Wunde. Da der nächste Arzt siebzig Meilen entfernt war, griff McClure selbst zu Nadel und Faden aus dem Medizinkasten und nähte dann wie an einer alten Hose. Er hatte keine Ahnung, wie tief man stechen musste oder durfte, und »Mutter hätte wahrscheinlich das eine oder andere auszusetzen gehabt«, wie er später bemerkte. Der Kapitän entledigte sich der ungewohnten Aufgabe nach Gefühl und war froh, als nachher alle Muskeln und Hautlappen wieder halbwegs am richtigen Fleck saßen. Nach einem freund- prüfenden Blick auf seiner Hände Arbeit knurrte er allerdings: »Ihre knabenhafte Schönheit ist dahin, Mr. Gowers!«
    John antwortete nicht. Sie hatten ein Stück Holz in seinen Mund geschoben, damit er den Schmerz wegbeißen konnte; aber die Kälte betäubte die Wunde von ganz allein, und so sah er stoisch zu, wie sich sein Blut auf dem Eis mit dem Blut des Bären mischte, den die übrigen Männer zu zerlegen begannen.
    Ein Gesicht fiel ihm ein, das er vor langer Zeit in Bedlam gesehen hatte, und er hörte wieder die Worte der Prophetin, die er damals nicht verstanden hatte: »Eis! Eis in den Augen und Blut auf dem Eis, das ist nahe!« Erst umständlich verbunden und mit verschiedenen Kleidungsstücken bedeckt,

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