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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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hinaus, um die anderen Wundermenschen zu sehen.
    Draußen hatte Miertsching inzwischen auf einem aufgespannten Robbenfell ein großes Stück Papier entfaltet und zeichnete mit Bleistift darauf: das Schiff, die Küste von Prince-Albert-Land, soweit sie sie kannten, den Weg, den sie zurückgelegt hatten. Es kostete erhebliche Mühe und Zeit, den Eskimos klarzumachen, dass nun sie diese Zeichnung ergänzen sollten. Wie sah die Küste im Süden aus? Wie viele Familien lebten dort? Hatten sie irgendetwas von weißen Männern gesehen oder gehört?
    Als die Aufgabe klar war, beteiligte sich das ganze Dorf begeistert an der Zeichnung; die Lage kleinerer Inseln wurde lebhaft diskutiert, dann die Frage, wo auf dem dünnen weißen Fell ihre Verwandten und die befreundeten Clans wohnten. Von weißen Männern zumindest hatte man noch nie gehört. Im Gegenteil hatten die Kanghiryuakmiut stets angenommen, dass sie mit Ausnahme einiger Eskimostämme und der schrecklichen blutessenden Indianer auf Nunavaksuaraluk , dem Land-ohne-Ende im Süden – auf dem Kontinent, übersetzte Miertsching –, die einzigen Menschen auf der Welt waren.
    Der alte Angakok , dem die Zeichnung zuletzt und wie zur Abnahme vorgelegt wurde, bestätigte nach langer interessierter Inaugenscheinnahme ihre Richtigkeit, und auch McClure stellte fest, dass die beiden von Richardson entdeckten Inseln Sutton und Liston in der Dolphin & Union Strait akkurat vermerkt waren. Die Ostküste von Prince-Albert-Land, dessen Identität mit dem altbekannten Viktoria-Land auf diese Weise erstmals festgestellt wurde, kannten diese Menschen jedoch auch nicht. Dort sei nur Eis, hoch und stark wie die Berge, das sich seit der Erschaffung der Welt noch nie aufgelöst habe. McClure nickte betroffen. Dort, in diesen weißen Fleck hinein, war Franklin gesegelt.
     

71.
     
    Im Quartier des Garnisonsarztes von Kanpur war Gowers zunächst klar geworden, wie jämmerlich er doch als Captain der US-Armee gehaust hatte. Verglichen damit war Clifford Meecham ein Nabob, mit eigener Dienerschaft, Küche, Wohn- und Schlafräumen, in denen ein halbes Dutzend amerikanischer Offiziere Platz gefunden hätte, um sich bei Bedarf auch noch aus dem Weg zu gehen. Kein Wunder, dass viele dieser Kerle sich später in England und einem bürgerlichen Leben nicht mehr zurechtfanden. War Meecham vielleicht deshalb noch immer in Indien?, fragte sich Gowers. Seine eigentliche Dienstzeit musste doch längst abgelaufen sein, wenn er seit den Tagen der Rebellion hier war. Das Angebot, den »schäbigen Rest der Nacht« in Wohnung und Gesellschaft des Arztes zu verbringen, hatte er jedenfalls sofort angenommen.
    Meecham benahm sich inmitten all der weitläufigen Pracht seines Quartiers wie ein ungezogener Junge oder zumindest wie ein sehr mutwilliger Junggeselle. Nach dem Interieur zu urteilen, bestand seine außerdienstliche Tätigkeit vorwiegend darin, Unordnung anzurichten und seine Diener am Aufräumen zu hindern. Der Mann ließ einfach fallen, was er nicht mehr brauchte oder benutzte; Bücher und Kleidungsstücke ebenso wie sein Reitzeug oder seine Jagdausrüstung. Hausschuhe, Paradestiefel, ein Spazierstock, achtlos hingeworfene Papiere, Briefe, ein Koppel mit Degen, die Reste von nicht zustande gekommenen geologischen und botanischen Sammlungen, überall herumstehende Whiskygläser, von den verschiedensten Sitzgelegenheiten gerutschte Kissen, Decken und Bezüge, eine Offiziersmütze, die vom Haken gefallen war – Gowers mochte den Mann, war aber immer noch Soldat genug, um ihm einen nächtlichen Alarm oder die unangemeldete Inspektion eines Vorgesetzten zu wünschen.
    »Nehmen Sie doch Platz!«, sagte Meecham und fegte mit einer beiläufigen Bewegung einen Stapel alter Zeitungen von einem riesigen Korbsessel, in dem der Investigator kurz darauf mehr lag als saß. »Einen Kaffee?« Ohne eine Antwort abzuwarten oder auch nur einen Gedanken an die nächtliche Stunde zu verschwenden, brüllte der Arzt einen Diener herbei, der im Gegensatz zum Zimmer so sauber war wie eine Porzellanfigur; wenn auch grau vor Müdigkeit.
    »Kaffee! Und mehr Licht!«, orderte der Arzt, hatte indes selbst schon zwei riesige Gläser und eine Kiste Zigarren aus einer staubigen Vitrine genommen. Obwohl Gowers in letzter Zeit deutlich Besseres geraucht hatte, steckte er sich die angebotene Zigarre genüsslich zwischen die Lippen und entzündete sie an der altersschwachen Öllampe, die sein Gastgeber ihm reichte. Kurz darauf machten

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