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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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dichte Rauchschwaden die Unordnung im Raum noch ein wenig malerischer.
    Meecham goss die Gläser erschreckend voll und zog dann ein weiteres Sitzmöbel nebst einem kleinen lederbezogenen Hocker heran, auf dem er seine Füße ablegte, als seien sie die Last der Welt. »Dann mal los, Captain! Warum wollte der Kerl Sie umbringen?«
    »Das weiß ich leider auch nicht genau«, erwiderte Gowers. »Aber die Tatsache, dass er es versucht hat, ist schon recht aufschlussreich.«
    »Sie meinen: Jemand scheint was dagegen zu haben, dass Sie ermitteln – was immer Sie auch ermitteln wollen.« Der letzte Satz wurde von einer so neugierigen Intonation getragen, dass Gowers grinsen musste.
    »Sagen wir lieber: Jemand scheint zu wissen, was ich ermitteln könnte! Das ist viel interessanter.«
    »Zumal Sie mit Informationen darüber so sparsam sind«, sagte der Arzt und erwiderte Gowers’ Grinsen.
    Gowers lachte. »Wer nicht viel hat, muss sparsam sein! Im Ernst, ich sammle meine Informationen noch. Und dabei könnten Sie mir helfen.«
    »Wie?« Meecham lehnte sich behaglich zurück und war, vor allem nachdem der Diener den starken, süßen Kaffee gebracht hatte, zu jeder Art Hilfe bereit, die in dieser Stellung möglich war.
    »Erzählen Sie mir mehr. Die Thugs, Tantia Topi, Nana Sahib. Erzählen Sie mir, was nicht in Büchern steht.«
     

72.
     
    »Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, Mr. Gowers, und sie wird so geschrieben, dass ihr Sieg stets ein notwendiger Fortschritt auf dem langen Weg zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe ist.« Das Lächeln des weißhaarigen jungen Arztes wurde bitter. »Dazu muss man natürlich das eine oder andere verschweigen.«
    »Ist mir bekannt.« Gowers nickte.
    »Ich …« Meecham schien zum ersten Mal in dieser Nacht ernsthaft berührt. »Ich will damit nur sagen, dass ich berichten will und nicht werten. Sehen Sie, die meisten Briten im Empire spucken immer noch aus, wenn sie den Namen Nana Sahib hören, und sie haben verdammt recht damit. Aber die Inder haben das gleiche Recht, vor Neill und Havelock auszuspucken.« Der Arzt lächelte wieder. »Man gilt allerdings schnell als Nigger, wenn man das zugibt.«
    Gowers hatte bereits gelesen, dass vor allem der Verrat Nana Sahibs dazu geführt hatte, dass die Briten noch immer jedem braunen Gesicht in Indien misstrauten und dass man sich auch auf den friedlichsten englischen Teegesellschaften die Zeit damit vertrieb, möglichst unschöne und langwierige Todesarten für den »Schlächter von Kanpur« zu ersinnen.
    »Ich war ein Griffin reinsten Wassers«, fuhr der Arzt unterdessen fort. »Frisch aus England, frisch von der Universität, das medizinische Examen in der Tasche und den üblichen Unsinn von Freiheit und Abenteuern im Kopf. Aber ich war kaum da, als die Rebellion ausbrach und meine Einheit Befehl erhielt, sich den Entsatztruppen in Benares anzuschließen. Am unheimlichsten war der Anmarsch. Ein Land im Aufstand, Mr. Gowers – aber links und rechts der Straße war alles völlig still, keine Bauern auf den Feldern, die Dörfer leer, die Leute in ihren Häusern und Hütten. Und wir mit entsicherten Waffen, immer kampfbereit, Schritt für Schritt, zweihundert Meilen weit. Es war, als würde sich das ganze Land ducken, wie vor einem Gewitter, dem man nicht entgehen kann. In Benares hieß es, dass Tantia Topi mit achtzigtausend Meuterern die Straße blockiert. In Benares sahen wir auch die ersten Leichen. Trieben den Fluss hinunter, Weiße: Männer, Frauen und Kinder, zu Dutzenden.« Meecham beugte sich vor, um die Glut seiner Zigarre, die auszugehen drohte, an der kleinen Lampe zu stärken. »Und es war nur das, was die Krokodile übrig gelassen hatten.«
    Auch ein weniger feinfühliger Beobachter als Gowers hätte inzwischen bemerkt, dass der Arzt im Grunde erzählte, wie er das Wrack geworden war, das da gestrandet in einem seidenen Paijama in Schlaflosigkeit und Alkoholsucht vor ihm saß. »Da wussten wir schon von dem Massaker in Kanpur und was am Sati Chaura Ghat geschehen war. Ein Boot war entkommen, Mr. Gowers, ein einziges. Fünf Überlebende einer ganzen Garnison – der Nana Sahib freien Abzug zugesichert hatte und die er niedermetzeln ließ, als sie am Sati Chaura Ghat in die Boote stiegen. Also gab unser Kommandant, der ehrenwerte Brigadegeneral James Neill, die Order aus, dass wir keine Gefangenen machen auf dem Marsch nach Allahabad und weiter den Fluss hinauf. Und so machten wir keine Gefangenen, machten

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