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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Rausch – beängstigend, lustig, verwirrend, geheimnisvoll, schön. Vielleicht würde es all das bleiben; aber von nun an würde er es beherrschen.
     

84.
     
    Gowers mochte es nicht, wenn er die Kontrolle über sich verlor. In seiner Jugend hatte ihm das stets Ärger eingebracht. Meist war es Alkohol gewesen, der ihm die Sinne vernebelte, aber einmal hatte er auch schon Opium geraucht, damals in New Orleans. Die Wirkung hatte ihn nicht sonderlich beeindruckt; eine Art euphorische Schlaffheit, die er nicht unbedingt noch einmal erleben wollte. Aber diesmal war die Wirkung eine ganze andere. Dieses Zeug, was immer es war, verschaffte ihm eher einen langen, nicht immer angenehmen, aber verwirrend klaren Traum.
    Zuerst zerfiel er zu Staub; nicht zu schweren Flocken, die zu Boden sinken, sondern zu dem gewichtslosen feinen Staub, wie er in einem Sonnenstrahl tanzt. Er schwebte über einer Landschaft, die er schon einmal gesehen hatte. Aber immer, wenn er ihr näher kam und schon glaubte, sie identifizieren zu können, wurde er durch die Wärme, die von ihr aufstieg, wieder hochgetrieben.
    Dann erkannte er, dass es Ishrats Körper war, über den er langsam hinwegschwebte: meilenweit ausgedehnte Hautlandschaften, sanft geschwungenes Fleisch. Er blickte zurück und erkannte am Horizont, unter einem roten Himmel, deutlich ihre beiden Brüste, wurde aber weiter nach Süden getrieben, während die Sonne versank und der Himmel dunkler wurde. Er folgte dem schwarzen Flaum feiner Härchen, der sich vom Vulkankrater des Nabels abwärts erstreckte und sich ganz unten in der Nacht auflöste.
    Er sah noch die weichen Schluchten der Vulva auf sich zukommen und hielt sie für das Ende seiner Reise, aber noch immer war er so winzig und leicht, dass die Hitze ihres Schoßes ihn plötzlich wieder hochwirbelte. Diesmal stieg er so hoch, dass die Sonne zurückkam, und als er zurückschaute, bemerkte er, dass das, was er für die verwirrenden Falten eines weiblichen Geschlechts gehalten hatte, ein System von Flüssen war: schwarzen Flüssen, die erst zu schimmern, schließlich zu gleißen begannen, als die ersten Sonnenstrahlen sie trafen.
    Er kannte ihre Namen; Namen, die er nie gehört hatte, waren plötzlich in seinem Kopf: Gandak, Garghara, Sai. Da wusste er, dass er kein Sonnenstäubchen mehr war, sondern ein großer Vogel. Er sah die Länder, durch die diese Flüsse sich wanden; grüne und goldene, fruchtbare Länder. Die Getreide- und Zuckerrohrfelder des Uttar Pradesh, weiter südlich das Reisland, Bengalen. Er sah wimmelnde Menschenmassen, gewaltige Heere, kleine Könige, die aufeinander einschlugen, und hätte gerne noch weiter zugesehen, als der Wind ihn erfasste und noch höher und immer höher trieb.
    Tief unter sich sah er kleine weiße Fetzen, hielt sie zuerst für Wolken, verstand aber dann, dass sie zu fest waren, um Wolken zu sein. Sie bewegten sich auch ganz anders, nicht mit dem Wind. Sie schwebten nicht, sondern flogen, in weiten Kreisen, wie von einem geheimen Willen zusammengetrieben. Sie schienen ihn zu verfolgen, konnten ihn aber nicht erreichen, sanken zurück. Dutzende, Hunderte zuletzt, vereinigten sie sich zu einem Schwarm, der sich nach Südosten wandte, die gleißenden Flüsse hinunter, und er wusste endlich, dass es Tauben waren, die zum Meer hinabflogen.
    Dann kam der Nebel. Er fühlte ihn feucht in seinem Gesicht. Das Land, die Flüsse, die Tauben verschwanden weit unter ihm, und er verstand plötzlich, dass dies nun endlich die Wolken sein mussten, Zirrus und Stratokumulus, dass er unendlich hoch war. Aber erst als er die Nebel durchstieß, sah er weit im Norden das Unglaubliche: eine lange Kette schneebedeckter, glänzender Berge, höher als die Wolken, der Vogelflug, so hoch, dass sie den Himmel berührten.
    Das Licht wurde zuletzt schmerzhaft hell, und als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass es schon seit Stunden wieder Tag sein musste. Das Erste, was er sah, war Coryate, der wach war, aber sich anscheinend nicht von der Stelle gerührt hatte. Der alte Mann saß noch immer aufrecht mit gekreuzten Beinen in der armseligen Hütte und sah aus, als hätte er mal wieder seinen Herzschlag angehalten.
     

85.
     
    »Es ist kein Dämon, der euch quält«, sagte der heilige Mann beim Abschied zu den Bauern. »Geht die Flüsse hinauf ins Avadh, wo der Wald von Teriani anfängt. Dort lebt das Rudel. Tötet alle Wölfe in dieser Gegend und lasst vor allem kein Weibchen am Leben.«
    Gowers, der an

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