Das Blumenorakel
doch?« Flora wühlte weiter in ihrem Schrank.
Sie hatte noch nie viel Wert auf ihre Kleidung gelegt â all ihre Röcke, Blusen und Kleider waren entweder dunkelbraun, dunkelgrün oder schwarz und nach praktischen Gesichtspunkten ausgesucht. Daran, dass sie für feine Kundschaft auch »feine« Kleidung benötigen würde, hatte sie bisher nicht gedacht.
»Vielleicht ist diese Vernissage eine Art Markt, auf dem es statt Gemüse Kunst zu kaufen gibt. Eigentlich müsste dein Friedrich so was doch wissen«, sagte Sabine.
»Der war auch noch nie zu so etwas eingeladen«, antworteteFlora geistesabwesend. Ausgerechnet an ihrer Lieblingsbluse fehlten zwei Knöpfe. »Aber die Fürstin Stropolski kennt er, sie sei eine Berühmtheit, sagt er. Sie wohnt alljährlich während der Saison im Europäischen Hof. Von einem Maler Konstantin Sokerov hat er allerdings noch nicht gehört.«
»Ist wahrscheinlich auch ein alter Greis wie dieser Herr Winterhalter«, sagte Sabine zwischen zwei Apfelbissen.
»Wenigstens findet alles erst am Nachmittag statt, ich hätte kein gutes Gefühl dabei, den Laden ausgerechnet am Samstagvormittag zuzumachen«, bemerkte Flora.
»Zur Not hätte sich immer noch die gnädige Frau hinter die Theke setzen können. Oder ich«, sagte Sabine.
Doch Flora schien ihr gar nicht mehr zuzuhören. Die Hände in die Hüften gestemmt, murmelte sie zornig: »Was bin ich nur für eine dumme Kuh! In Gönningen weià jedes kleine Kind, dass man sich im Geschäftsleben ordentlich präsentieren muss, die Samenhändler legen stets groÃen Wert auf ihre Erscheinung. Kuckucksspucke, ich habe nicht ein einziges präsentables Kleid!« Wie ein nasser Sack plumpste Flora neben Sabine aufs Bett.
»Dafür habe ich eine Idee. Pass auf!« Schon sprang die Magd auf und durchwühlte Floras Holzschatulle. »Du ziehst das dunkelbraune Kleid an, das ist noch einigermaÃen in Ordnung. Und mit deiner Buchstabenbrosche steckst du dir als Blickfang ein paar Blumen an den Kragen.«
Flora seufzte erleichtert auf. »Ach Sabine, wenn ich dich nicht hätte!«
»Dann hättest du eine andere«, gab die Magd trocken zurück, aber ihr Gesicht strahlte.
Flora fasste sie an den Händen und drehte sie im Kreis. »WeiÃt du was? Wenn ich das Geld für diesen Auftrag erst einmal in der Hand habe, gehen wir fürstlich einkaufen. Ein neues Kleid für mich, und du bekommst ein paar neue Schleifen für deinen Zopf!«
Natürlich war die Familie sprachlos gewesen, als Flora vom Besuch der russischen Fürstin erzählte.
Fünfhundert Maiglöckchen? Für eine Bilderausstellung?
Ernestine hatte ausgesehen, als ob sie im nächsten Moment ohnmächtig werden würde, doch dann hatte sie sich schnell wieder erholt. »Tja, so sind die Russen«, hatte sie im Ton einer Expertin gesagt, ihren Sohn mit einem schrägen Seitenblick bedacht und hinzugefügt, dass die Dame ohne Floras Blumen-ABC sicher nie gekommen wäre.
»Dann kannst du deinen Eltern gleich das geliehene Geld zurückzahlen, mir ist nämlich nicht wohl dabei, Schulden zu haben«, hatte Friedrich gesagt.
Flora hatte abwesend genickt. Ihre Eltern würden nicht am Hungertuch nagen, wenn sie sich mit der Rückzahlung noch etwas Zeit lieÃe. Zuerst einmal galt es, die Fürstin zufriedenzustellen. Und dann ⦠Womöglich würden solche Wunder noch öfter geschehen?
Himmel und Erde musste der Gärtner Flumm in Bewegung setzen, um innerhalb von vier Tagen die vielen Maiglöckchen aufzutreiben. Doch Samstagvormittag standen die Blumen tatsächlich auf einem groÃen Leiterwagen vor dem Laden der Familie Sonnenschein.
Beiläufig befingerte Flora ihre Ansteckblumen, während sie in den Saal des Europäischen Hofes starrte. Solange sich niemand an ihr störte oder sie hinauswarf, hatte sie nicht vor, ihren Aussichtsplatz an der Hintertür aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Jedes Detail wollte sie sich merken, damit sie Friedrich und Ernestine davon erzählen konnte!
Bilder und dazu Gäste, die die Bilder bewunderten â so weit hatte ihre Vorstellung von einer Vernissage gereicht. Aber alles andere â¦
Allein die Bilder! Flora hatte sich riesige Ãlgemälde vorgestellt, vielleicht lebensgroÃe, beeindruckende Frauenporträts oder wunderschöne Landschaften in satten
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